Gespräch mit Terry Wey und Ulfried Staber über Spem in alium
Spem in alium, die Motette von Thomas Tallis, war beim Herbstfestival des Forum Alte Musik Zürich Gegenstand einer ungewöhnlichen Aufführung. Der englische Renaissancekomponist schuf das Werk vermutlich 1573 zum vierzigsten Geburtstag von Queen Elisabeth I. Er schrieb es für acht Chöre zu je fünf Stimmen, also insgesamt vierzig Stimmen; eine Aufführung dauert je nach Interpreten zwischen neun und elf Minuten. Aufgrund der Riesenbesetzung ist es nicht gerade häufig zu hören.
Beim Forum Alte Musik Zürich traten nun bloß zwei Sänger auf, die sich abwechselten: der Countertenor Terry Wey, der mühelos auch die Sopranlage abdeckt, und der Bassbariton Ulfried Staber. Beide sind Mitglieder des Wiener Alte-Musik-Ensembles Cinquecento, beim Tallis-Projekt treten sie unter dem Namen „Multiple Voices“ auf.
Der „Trick“ bei dieser Zwei-Mann-Aufführung: Jede Stimme von Spem in alium wird einzeln gesungen, mit den bisher schon gesungenen Stimmen, die über sechzehn Lautsprecher in den Saal zugespielt werden, live gemischt und aufgezeichnet. Dann singt der andere Sänger nach der gleichen Methode die nächste Stimme. So baut sich das vierzigstimmige Stück Schicht um Schicht auf. Ein Durchgang dauerte neuneinhalb Minuten, das Ganze also vierzigmal neuneinhalb Minuten. Das sind über sechs Stunden reine Musikzeit und mit Pausen glatt acht.
Dank eines sensibel reagierenden Technik-Teams (in Zürich: Markus Wallner und Bernd Lambauer) entsteht mit den acht Kanälen ein Raumerlebnis, das dem des Originals mit acht im Raum verteilten Teilchören nicht nachsteht. Durch die Reduktion auf nur zwei Sänger entfällt zwar die klangfarbliche Vielfalt der Mehrchörigkeit, doch die Reinheit und Homogenität des Klangs ermöglicht eine ebenso spannende Hörerfahrung.
Wer dem faszinierenden Experiment in der Kirche Zürich-Enge beiwohnte, konnte erleben, wie das Vokalwerk Stimme um Stimme zum monumentalen Klangereignis heranwuchs. Nach dem achtstündigen konzentrierten Gesangsmarathon stärkten sich Terry Wey und Ulfried Staber im italienischen Restaurant bei Pizza und Wein. Hier entstand auch das nachfolgende Interview.
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Max Nyffeler: Sie haben „Spem in alium“ jetzt schon dreizehnmal aufgeführt. Hat es sich im Lauf der Zeit verändert?
Ulfried Staber: Es ist für uns leichter geworden, weil wir es mit jedem Mal besser kennen. Zwar entdecken wir immer wieder neue Dinge, aber die einzelnen Stimmen sind zunehmend einfacher zu singen.
Terry Wey: Die ersten paar Male ging es mehr darum, zur richtigen Zeit die richtigen Noten zu singen, und das dann über ganze acht Stunden, was ja nicht einfach ist. Mittlerweile wissen wir, dass das geht, und jetzt leisten wir uns auch ein wenig Spaß. Wir versuchen zum Beispiel, einzelne Passagen, die wir besonders interessant finden, ein bisschen lauter zu singen. Wir versuchen also das Ganze wie ein Dirigent ein bisschen modellieren.
Ulfried Staber: Es geht nicht mehr darum, es überhaupt zu schaffen, sondern das Stück so schön wie möglich zu singen.
Das hört man auch. Aber vermutlich trägt auch der Klangregisseur mit der Aussteuerung etwas zur Gestaltung bei, indem er die Lautstärken-Hüllkurve modelliert.
Terry Wey: Schon möglich. Aber ich weiß nie, wieviel der genau macht.
Ulfried Staber: Von der Dynamik her versuchen wir, an bestimmten Stellen auch wirklich leise zu singen, zum Beispiel bei “respice”, gegen Schluss.
Terry Wey: In der Passage mit den cori spezzati, also dem räumlichen Wechselspiel der Chöre, bauen wir diese Abstufungen ganz bewusst ein, damit es einen dynamischen Aufbau gibt. Andererseits, wenn Markus, unser Tonmeister, eine Stelle hört, an der eine Stimme besonders laut ist und damit aus dem Gesamtklang herausfallen würde, dann zieht er diese ein bisschen herunter.
Wie funktioniert das technisch mit der Aufnahme und der Überlagerung der Stimmen? Gibt es einen Clicktrack? Die Koordination ist ja nicht einfach, gerade am Anfang.
Terry Wey: Vor der ersten Live-Aufführung haben wir einen Testlauf im Studio gemacht. Anfänglich dachten wir auch an einen Clicktrack, aber wir haben uns dann dagegen entschieden. Wir fanden, dass das monoton wird, sozusagen rechnerisch, und am Ende wirkt es maschinell. Und da wir nicht nur einen Anhaltspunkt für den Rhythmus, sondern auch für die Tonhöhe brauchten, haben wir eine andere Lösung gefunden.
Ulfried Staber: Das ist die Continuostimme, die in der Partitur von Spem in alium vor dem eigentlichen Notentext abgedruckt ist.
Terry Wey: Die habe ich genommen und auf einem mitteltönigen Keyboard eingespielt. Und da ich keine Maschine bin, gibt es minimale rhythmische Unschärfen, und so wirkt dieser zeitliche Raster überhaupt nicht künstlich, sondern lebendig. Anstelle eines Clicktracks wird uns diese Continuostimme über Ohrhörer zugespielt.
Ulfried Staber: Außer der Continuostimme gibt es also keinerlei rhythmische Vorgabe. Aber da die einzelnen Gesangspartien stellenweise sehr lange pausieren, habe ich alle fünf Takte zusätzlich die Taktzahlen draufgesprochen. Also “fünf”, “zehn”, “fünfzehn”, undsoweiter. Wir hören das nicht nur, wir sehen diese Markierungen auch auf dem kleinen Monitor, der direkt vor uns steht.
Terry Wey: Deswegen können wir, wie man bei der Aufführung auch sehen kann, in den langen Pausen zwischendurch auch die Ohrhörer rausnehmen und ein bisschen den Raumklang mithören, ohne ständig zählen zu müssen.
Der Anfang, wenn noch keine weitere Stimme vorhanden ist, nach der man sich richten kann, ist wahrscheinlich das Schwierigste. Was ist das für ein Gefühl, wenn man ein vierzigstimmiges Stück wie „Spem in alium“ als Solist anstimmt?
Terry Wey: Naja, man macht sich da weniger Gedanken um die Vierzigstimmigkeit. Aber es ist schon ein bisschen ein Tanz auf rohen Eiern, man fühlt sich ziemlich exponiert. Und dann beginnt das Stück noch mit der Altstimme der ersten Chorgruppe, und diese Altstimme liegt für mich genau in einer Übergangslage. Da ist man schon ein bisschen angespannt. Aber wir haben es jetzt schon oft gemacht, so dass ich weiß: Das ist am Anfang jetzt ein bisschen Stress, aber am Ende funktioniert es.
Und wie reagiert das Publikum?
Ulfried Staber: Immer positiv. Aber man weiß halt nie, wie diese sehr spröden zwei Minuten des Anfangs aufgenommen werden.
Terry Wey: Bei uns besteht zu Beginn eine gewisse Unsicherheit, wie dieser Anfang mit seinen Pausen ankommt. Ob man überhaupt versteht, wo das Ganze hinführt.
Das dürfte kaum ein Problem sein. Das Publikum ist vorinformiert durch die Angaben im Programmheft. Es ist faszinierend zu hören, wie sich das Stück langsam aufbaut. Man bekommt auch einen analytischen Zugang zur Struktur. Aber wie ist das bei Ihnen: Verändert sich im Lauf der Zeit, bei diesem Prozess von der Einstimmigkeit bis zu den vierzig Stimmen, auch bei Ihnen etwas?
Ulfried Staber: Es ist immer wieder neu für uns. Für mich ist es jedes Mal wieder spannend. In der Mitte, wenn man bei zwanzig Stimmen angelangt ist, könnte man annehmen, nun sei alles gesagt. Aber das stimmt nicht. Wir kennen das Stück jetzt so gut und spüren bis zum Schluss, dass da noch etwas fehlt. Wie bei einem Mosaik oder einem Puzzle, wo man weiß: Da fehlt zum Beispiel noch das linke Auge. Das Stück ist so herausragend komponiert, dass es diese acht Stunden trägt und nie langweilig wird.
Es ist sicher eine interessante Erfahrung auch für Sie, so langsam in das Stimmengewoge hineinzugeraten, das Spem in alium charakterisiert. Da fühlt man sich von Klang wohl immer mehr getragen.
Terry Wey: Es wird auch sukzessive immer einfacher. Aber auch die Anfangszeit spielt eine Rolle. Jetzt in Zürich haben wir um zwölf Uhr mittags begonnen, und das war ein wenig anders als sonst. Normalerweise beginnen wir um 16 Uhr und sind um Mitternacht fertig. Abends um zehn oder elf Uhr reagiert aber der Körper anders, man wird ein bisschen müde. Einerseits ist es für uns zwar leichter, weil schon so viel Klang vorhanden ist, andererseits kostet die Konzentration aber mehr Kraft.
Sie haben einige Passagen von Spem in alium zu zweit gesungen. Haben sie die Stimme in diesem Fall aufgeteilt, weil das eine Mittellage war?
Terry Wey: Genau. Es sind acht Chöre zu je fünf Stimmen, Sopran, Alt, Tenor, Bariton, Bass. Ich singe also Sopran und Alt, und Ulli singt Bariton und Bass. Das Ganze haben wir eine Terz hinuntertransponiert, weil der Sopran für mich sonst zu hoch wäre. Nun sind die Tenöre für mich ein wenig zu tief und für Ulli aber immer noch ein wenig zu hoch, und deshalb teilen wir diese Stimmen auf. Auch damit das Material gerecht aufgeteilt ist und jeder von uns ungefähr gleichviel zu singen hat.
Spem in alium ist ja nicht das einzige Vokalwerk der Renaissance mit so vielen Stimmen, es gab offenbar Vorbilder. Haben sie die auch schon gesungen?
Ulfried Staber: Ja. Es gibt zum Beispiel von Alessandro Striggio die vierzigstimmige Motette Ecce beatam lucem, und die haben wir tatsächlich aufgenommen, auch um zu probieren, wie das funktioniert. Das ist auch ein sehr schönes Stück, keine Frage, aber es ist nicht so ein vielseitiger Blumenstrauß wie Spem in alium von Tallis.
Terry Wey: Das Stück ist für zehn Chöre zu vier Stimmen geschrieben. Es ist weniger polyfon, alles ist sehr viel vertikaler, und es gibt viele cori spezzati. Deswegen ist es für Live-Events weniger geeignet, weil einfach die einzelne Stimme für den Zuhörer weniger interessant zu verfolgen ist.
Und haben sie Spem in alium auch schon im Original gesungen, als Stück von zehn Minuten mit 40 Sängern?
Terry Wey: Ich nie.
Ulfried Staber: Ich schon, mit dem Huelgas Ensemble habe ich es zwei, dreimal gemacht.
Da macht man natürlich ganz andere Erfahrungen.
Ulfried Staber: Das kann man nicht vergleichen. Der Vor- und Nachteil unserer Version ist: Es ist zwar vierzigstimmig, aber wir haben nur zwei Farben: Meine Stimme und Terrys Stimme. Also, das ist schon ein bisschen ein konstruiertes Gemälde mit nur zwei Stimmfarben.
Terry Wey: Aber dafür gibt’s keine Schwächen, es hat eine gleichbleibende Qualität durch alle Stimmen hindurch. Das ist mit vierzig Leuten nicht zu erreichen, da gibt es große Unterschiede.
Ulfried Staber, Terry Wey, vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch fand am 17. September 2023 in Zürich statt.
Text der Motette (aus dem Buch Judith): Spem in alium nunquam habui praeter in te, Deus Israel, qui irasceris, et propitius eris, et omnia peccata hominum in tribulatione dimittis. Domine Deus, Creator coeli et terrae, respice humilitatem nostram.
Ich habe niemals meine Hoffnung in irgendeinen anderen als dich gelegt, Gott Israels, der du zornig sein und doch wieder gnädig werden wirst, und der du all die Sünden des leidenden Menschen vergibst. Gott, unser Herr, Schöpfer des Himmels und der Erde, sieh an unsere Niedrigkeit.
Forum Alte Musik Zürich
Multiple Voices
Konzertbericht in der Schweizer Musikzeitung