symphony.live, ein neues Klassikportal

symphony.live, LSO mit Nathalie Stutzmann

Seit September 2022 ist mit symphony.live ein neues Klassik-Portal online. Angesichts bestehender, ähnlich gelagerter Unternehmen, der Videotheken öffentlich-rechtlicher Fernsehsender und der Gratiskanäle wie Youtube ist das ein mutiger Schritt. Aber die Initiatoren sehen sich gut aufgestellt. Zum Startkapital gehören laut der Fachpublikation „Silicon Canals“ eine Investitionssumme von sechs Millionen Euro und bei den Inhalten zahlreiche weltweit führende Sinfonieorchester, mit denen eine enge Zusammenarbeit vereinbart wurde.

Das Programm unterscheidet sich stark von anderen Klassikkanälen. Es konzentriert sich, wie der Name sagt, ausschließlich auf Sinfoniekonzerte – ähnlich wie die „Digital Concert Hall“ der Berliner Philharmoniker, aber ohne deren monochrome Ausrichtung auf ein einziges Orchester.  Und vor allem verfährt symphony.live nicht nach dem gängigen Muster „Ansage, Konzert abfilmen, Absage und fertig“.

Konzertübertragung mit Storytelling

Nach einer gemeinsam mit den Orchestern entwickelten Dramaturgie werden die Konzertaufzeichnungen in eine Vielfalt von Zusatzinformationen eingebettet: Interviews mit Dirigenten, Orchestermusikern und Publikum, Backstage-Reportagen und kurze Charakterisierungen der Werke, manchmal auch Hinweise auf die Geschichte des Orchesters oder des Konzertsaals. Und nach dem Konzert folgt jeweils eine Kritikerrunde, in der drei Fachleute über das Gehörte diskutieren. Vom Ansatz her ist das bestes Bildungsfernsehen, in lockerer Gesprächsform präsentiert und attraktiv bebildert.

Klassik müsse man mit Storytelling verbinden, sagen die Verantwortlichen, mit steifen Präsentationsformen und dem Aufsagen von nüchternen Fakten erreiche man heute auch im Klassikbereich niemanden mehr. Das wäre eigentlich die Domäne der Öffentlichrechtlichen, doch dafür haben sie offenbar kein Interesse mehr.

Rob Overman
Rob Overman, CEO symphony.live

Die Idee zum Programmkonzept von symphony.live stammt vom niederländischen Musik- und Medienmanager Rob Overman. Das Storytelling habe er als Musikgeschichtslehrer an der Hochschule gelernt, sagt er. Da aber die Studenten ihre Zeit lieber mit Instrumentalspiel verbringen wollten, habe er, um den ungeliebten Geschichtsunterricht attraktiver zu machen, sich etwas einfallen lassen müssen. Eben Storytelling.

symphony.live hat breite Publikumsschichten im Blick

Overman gründete das Klassikportal  2021 zusammen mit dem holländischen Medienunternehmer Henk Bout. Vorangegangen war eine Karriere als Orchestermanager in Holland und als Programmchef des kanadischen Klassikanbieters Stingray Classica. Die Erfahrungen kann er nun bei symphony.live in die Praxis umsetzen. Der Dritte im Bunde ist der Marketingspezialist Jose Evers, der seine bei Heineken Bier und bei der Champions League erworbene Expertise in das Unternehmen einbringt.

Symphony.live will unterschiedliche Publikumssegmente ansprechen: einerseits die kenntnisreichen Konzertgänger, die ihre Stars lieben und auf der Suche nach außergewöhnlichen Aufnahmen sind, andererseits Zuschauerschichten, die sich zwar für Klassik interessieren, aber mehr darüber wissen möchten, und schließlich die Neugierigen, die überhaupt erst nach einem Zugang suchen. Ihnen soll die vielzitierte Schwellenangst genommen werden.

Antonio Pappano: „Die Klassik entmystifizieren!“
Antonio Pappano
Antonio Pappano

Als Motto für diese Strategie zitieren die Verantwortlichen einen Ausspruch des Dirigenten Antonio Pappano: Die Klassik entmystifizieren! Einen Trumpf haben sie in der Person von Dominic Seldis, Solokontrabassist im Concertgebouw Orchester und begnadeter Präsentator von Klassik im Fernsehen. Mit seinen kenntnisreichen Kommentaren, die er mit kamerageübten Enthusiasmus vorträgt, trifft er genau den Punkt, wo sich solides Fachwissen und populäre Vermittlungsformen treffen.

Die Ansprüche von symphony.live sind hoch gesteckt, man will nur mit Spitzenorchestern zusammenarbeiten. Einstweilen sind es zwölf, darunter das London Symphony Orchestra und das Concertgebouw Orchester, die Tschechische Philharmonie, das Tonhalle-Orchester Zürich, das Budapest Festival Orchestra – es hat gerade 2022 den Gramophone Award als „Orchester des Jahres“ erhalten – und das Cleveland Orchestra. Anfang 2023 sind nun die Münchner Philharmoniker dazugekommen, der Vertrag mit einem weiteren deutschen Orchester steht bevor. Als Fernziel gelten maximal vierundzwanzig Partner, was angesichts der engen Produktionstermine – jedes Orchester soll viermal im Jahr zum Zuge kommen – einen enormen Aufwand in den Bereichen Programm, Technik, Marketing und Rechten bedeutet.

Das Corona-Virus als Starthilfe

Die Vorbereitungen und ersten Kontakte fielen in die Jahre 2020 und 2021, als das Coronavirus wütete. Aber die Pandemie entpuppte sich als Glücksfall: Die Orchester konnten nicht mehr vor Publikum spielen und waren deshalb spontan zur Zusammenarbeit mit symphony.live bereit. Die komplexen Produktionsabläufe, die gemeinsam entwickelt wurden, sind seither Standard. Die Live-Aufnahme im Saal und das Drumherum wird von den Orchestern in Eigenregie produziert, die anschließende Kritikerrunde findet in Amsterdam statt. Nach fünfwöchiger Bearbeitungszeit steht dann das ganze Paket im Netz und wandert anschließend ins Archiv.

Im Archiv sind neben den Live-Aufnahmen bereits über sechshundert Titel rund um das Thema Orchestermusik abrufbar – ein Fundus, der von der populären Sinfonik bis zur anspruchsvollen Dokumentation reicht, lizensiert von namhaften Produktionsfirmen. Alles ist einmal irgendwo im Fernsehen gesendet worden, das Wenigste ist auf dem DVD-Markt erhältlich. Beim Ausbau des Katalogs hält sich symphony.live an das internationale Netzwerk der Produzenten, die sich alljährlich bei der Musikfilm-Avantpremiere in Berlin treffen.

Ein innovatives Geschäftsmodell

Das Geschäftsmodell sieht vor, dass nach Abzug der Marketingkosten die Einnahmen zu gleichen Teilen an die Plattform und das Orchester gehen. Symphony bestreitet daraus die Kosten für die Lizenzen und den hauseigenen Aufwand, das Orchester die Drehkosten vor Ort; dabei sollte auch für die Musiker einiges übrigbleiben. Auf der Konsumentenseite gilt das Modell Netflix: Der Klassikfreund kann die Live-Produktionen zum Preis von monatlich zehn Euro ansehen und außerdem das ganze Archivmaterial jederzeit abrufen. Kurz nach dem Start gab es bereits über tausend Abonnenten, die Zahl wächst seither kontinuierlich.

Inwieweit dieses Geschäftsmodell funktioniert, wird sich zeigen. Bei symphony.live rechnet man mit einer Experimentier- und Lernphase von zwei Jahren, wofür das mehrheitlich von holländischen Geldgebern investierte Startkapital ein hinreichendes Polster darstellt.

Bei der Markterschließung folgt man dem Modell der Champions League. Früher, sagt Marketingmann Evers, bewegten sich die Spitzenklubs nur in ihrem regionalen Umfeld, und erst der organisatorische Zusammenschluss mit Hilfe des Fernsehens eröffnete dem Fußball ungeahnte neue Möglichkeiten was die Verbreitung, die Finanzierung und die Spielqualitäten angeht. Solche Synergien möchte symphony.live auch mit seinen Orchesterchampions erzeugen.

Eine kürzere Version dieses Beitrags ist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29.12.2022 erschienen.

www.symphony.live
Rob Overman

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