Wer Japan sagt, denkt sicher nicht gleich an Takefu, sondern zuallererst an Tokio, die Zehnmillionenstadt mit ihren Wolkenkratzern inmitten gepflegter Grünzonen, den blitzsauberen Strassen und dem perfekt funktionierenden öffentlichen Verkehr. Nicht zu vergessen der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen, eine Ikone der Hightech-Nation Japan, der von hier aus im Zehnminutentakt Richtung Süden losbraust und mit seiner sekundengenauen Pünktlichkeit sogar die Schweizerischen Bundesbahnen in den Schatten stellt. Und dann ist da natürlich die Musikstadt Tokio mit ihren akustisch hervorragenden Sälen, wo sich die europäischen Spitzenorchester die Klinke in die Hand geben und vor ausverkauftem Haus den obligaten Beethoven-Zyklus spielen. Die europäische Klassik steht beim japanischen Publikum in hohem Ansehen und die Honorare für die Gastdirigenten sind konkurrenzlos.
Doch Japan ist nicht nur Tokio. Japan ist auch Takefu, die kleine Stadt in der Präfektur Fukui nördlich von Kyoto.
Im Zentrum von Takefu gibt es noch die alten Holzhäuser mit den kleinen, ebenerdigen Werkstätten und Läden. Etwas ausserhalb dann die weiten Flächen mit öffentlichen Gebäuden, Supermärkten, Schulen und Freizeitanlagen. Hier befindet sich auch das kommunale Kulturzentrum mit dem frisch renovierten Saal von rundtausend Plätzen, wo jährlich im September das Internationale Takefu Musikfestival über die Bühne geht. Zwar ist dann gerade Taifunsaison, aber Regen und Sturm werden von den Einheimischen stoisch ertragen, und auch der europäische Gast gewöhnt sich schnell daran. Die rührigen Organisatoren garantieren für trockene Transfers zwischen Hotel und Saalbau.
Ohnehin funktioniert hier alles mit der für Japan typischen Zuverlässigkeit. Getragen wird das Festival von einer Non-Profit-Organisation: musikbegeisterte Bürger von Takefu, die sich in den Kopf gesetzt haben, mit ihrem Laienchor einmal jährlich ein europäisches Werk aufzuführen. Das Requiem von Mozart, eine Schubert-Messe, Brittens „Ceremony of Carols“ und nun das von Andrea Pestalozza dirigierte Deutsche Requiem von Brahms standen zuletzt auf dem Programm. Die Hingabe, mit der sich die Menschen in dieser japanischen Provinzstadt unserer Musik widmen, macht den Besucher sprachlos.
Das Takefu Festival existiert seit bald dreissig Jahren, seit 2001 wird es von Toshio Hosokawa geleitet. Im klassischen Programmteil unterstützt ihn die Pianistin Kei Itoh, die 1983 den Münchner ARD-Wettbewerb gewann und neben ihrer Konzerttätigkeit heute in Tokio unterrichtet. Hosokawa, der in Deutschland bei Klaus Huber und Isang Yun studierte, hat den Anteil der zeitgenössischen Musik im Festivalprogramm im Lauf der Jahre schrittweise ausgebaut. Heute kommen führende europäische Neue-Musik-Interpreten zu Konzerten und Meisterkursen nach Takefu, so etwa der Flötist Mario Caroli, der Trompeter Jeroen Berwaerts, die Sopranistin Yeree Suh oder 2015 das Quatuor Diotima. Zusammen mit einer Gruppe junger, hoch qualifizierter japanischer Musiker bilden sie den harten Kern der Festivalinterpreten. Musiziert wird auch gemeinsam mit den Kursteilnehmern, was das spezifische Takefu-Gefühl spürbar befördert. Man versteht sich als eine grosse Familie, man musiziert gemeinsam, besucht in der Freizeit gemeinsam die Tempelanlagen in der Umgebung und feiert fröhliche Sushi-Parties.
Ein zentraler Programmpunkt sind die Kompositionskurse. Die Teilnehmer kommen vor allem aus Fernost, von Japan bis zu den Philippinen, die Dozierenden – Komponistinnen und Komponisten, Philosophen, Musikwissenschaftler – aus Europa und Japan. Die Komponisten unterrichten nicht nur, sie halten auch Vorträge und ihre Kammermusik wird gespielt. Stefano Gervasoni, Isabel Mundry, Alberto Posadas und viele andere waren schon da. Eingeladen waren in diesem Jahr Charles Kwong aus Hongkong, der Australier Chris Williams, die Rumänin Diana Rotaru, die Griechin Lina Tonia, der Japaner Naoki Sakata, der Österreicher Johannes Maria Staud und aus der Schweiz Bettina Skrzypczak. Von ihr erklangen drei Werke, darunter das ausdrucksstarke Klavierstück „Daphnes Lied“, technisch brillant und hochkonzentriert gespielt von Junko Yamamoto.
Junko Yamamoto, Pianistin des Stuttgarter Ensembles cross.art, gehört wie die hierzulande ebenfalls bestens bekannte Bratschistin Tomoko Akasaka, die Sopranistin und Scelsi-Spezialistin Maki Ohta oder Kimi Makino, Bratschistin im BBC Philharmonic Orchestra Manchester, zu den zahlreichen japanischen Musikerinnen und Musikern, die in Europa leben und in Takefu regelmässig präsent sind.
«Vitalize the Town!» Unter diesem Motto standen die täglichen musikalischen Abstecher in Schulen und öffentliche Einrichtungen sowie das enthusiastisch aufgenommene Kinderkonzert, zum dem stets ganze Busladungen von Vorschulkindern zum Saalbau gefahren werden. Damit leistet das Festival einen Beitrag zur Musikerziehung und zieht sich die Besucher von morgen heran.
Und dann gab es noch das alte Japan: Eine Gruppe buddhistischer Mönche trug rituelle Gesänge vor, und in einem der vielen Tempel der Stadt wurde mit meditativer Musik und der Blumenzeremonie des Ikebana die Erinnerung an die alten japanischen Traditionen wachgehalten, die, so Hosokawa, heute vom Verschwinden bedroht sind.
Eine Ikebana-Zeremonie, dazu die Komposition „Melodia“ von Toshio Hosokawa: Auch das gehört zum aussergewöhnlichen Format dieses Festivals. Es ist nicht nur ein lebendiger Treffpunkt zwischen Ost und West, sondern auch ein Ort, wo Gegenwart und Vergangenheit eine inspirierende Verbindung eingehen.
Eine leicht veränderte Version dieses Texts ist in der Schweizer Musikzeitung Nr. 11/2018 erschienen.