Toshio Hosokawa: Stilles Meer

In dem am 24. Januar 2016 in Hamburg uraufgeführten Bühnenwerk „Stilles Meer“ verknüpft Toshio Hosokawa einen alten japanischen Stoff aus dem Nō-Theater mit der Tsunami-Katastrophe von Fukushima im Jahr 2011.

Die Widmung an die Opfer der Naturkatastrophe von Fukushima unterstreicht den Gegenwartsbezug des am 24. Januar 2016 in Hamburg uraufgeführten Einakters „Stilles Meer“. Es gibt darin aber auch zahlreiche Traditionsbezüge, und durch die Verknüpfung dieser verschiedenen Ebenen kommt eine Bühnenerzählung mit Tiefgang zustande.

Im Zentrum steht das Verhalten der Menschen nach der Tsunami-Katastrophe von Fukushima. Diese unmittelbar realitätsbezogene Handlungsebene hat der Librettist Oriza Hirata, ein erfahrener japanischer Theatermann, mit zwei Handlungssträngen aus literarischen Vorlagen unterfüttert. Eine dieser Vorlagen ist das Nō-Spiel „Sumidagawa“ (Am Sumida-Fluss) aus dem frühen 15. Jahrhundert. Darin ist eine Mutter auf der Suche nach ihrem toten Sohn und findet schließlich sein Grab am Ufer dieses Flusses; durch ihr Gebet bringt sie seine Gestalt zum Erscheinen, doch als sie ihn berühren will, entschwindet er wieder und sie bleibt allein zurück. Die andere Vorlage ist die japanische Novelle „Das Ballettmädchen“ von Ōgai Mori aus dem Jahr 1890; sie handelt von der tragisch scheiternden Liebesbeziehung eines japanischen Studenten in Berlin mit einer deutschen Balletttänzerin.

Das Aufgreifen alter japanischer Überlieferungen und ihre Neuformulierung mit den Mitteln der Gegenwart, wie er es hier wie hier mit dem Nō-Spiel „Sumidagawa“ macht, ist charakteristisch für Toshio Hosokawa. Auch das Thema der kulturellen Ost-West-Begegnung beschäftigt ihn permanent. Als künstlerischer Leiter des Internationalen Musikfestivals in der japanischen Stadt Takefu hat er das auch in die Veranstalterpraxis umgesetzt.

Die Lebenden im Kontakt mit den Toten

Mit dem Bezug auf das Nō-Theater wird die gegenwartsbezogene Handlung von „Stilles Meer“ um eine metaphysisch-spirituelle Dimension erweitert. Das im Nō-Spiel auftauchende Motiv der trauernden Mutter, die den Kontakt mit dem toten Sohn sucht, greift wiederum auf die uralte japanische Tradition des weiblichen Schamanismus zurück, wo bestimmten Frauen die Fähigkeit zugeschrieben wurde, mit den Seelen der Verstorbenen in Kontakt zu treten. Aber auch das Meer wird zum Ort des Übergangs vom Diesseits zum Jenseits, indem die Handlung der Oper in die „Tōrō nagashi“-Zeremonie eingebettet wird. Bei diesem Ritual setzen die Menschen Laternen auf dem Meer aus, die die Seelen der Verstorbenen symbolisieren. Durch diese Elemente wird die auf der Bühne dargestellte Alltagswirklichkeit zu einer jenseitigen Wirklichkeit hin geöffnet. Aus der Gegenüberstellung der beiden Wirklichkeiten resultiert die dramatische Grundspannung von „Stilles Meer“.

Oriza Hirata, der Autor des japanischen Originallibrettos, war zugleich der Regisseur in der Hamburger Inszenierung; auf der Basis von Hiratas Textbuch verfasste Hannah Dübgen das deutschsprachige Libretto. Für das japanisch schlichte, aber aussagekräftige Bühnenbild war Itaru Sugiyama, für die Kostüme Aya Masakane und für das Sounddesign Takeshi Tsuchiya verantwortlich. Wesentliche Teile von Werk und Inszenierung lagen in Hamburg also in japanischer Hand. Ein Stück japanische Authentizität, das zweifellos mit ein Grund für den großem Erfolg der Uraufführung war.

Premierenfeier nach der Hamburger UA von "Stilles Meer"
Premierenfeier nach der Hamburger Uraufführung von „Stilles Meer“, mit Kent Nagano, Toshio Hosokawa und Teilen des Solistenensembles.

Aktuelles Geschehen und buddhistische Rituale

Die Handlung von „Stilles Meer“ fällt in die Zeit unmittelbar nach dem verheerenden Tōhoku-Erdbeben von 2011 mit der dadurch ausgelösten Tsunami-Katastrophe und dem Reaktorunfall in Fukushima. Claudia, eine in Japan lebende ehemalige Balletttänzerin aus Deutschland, hat Max, ihren Sohn aus erster Ehe, und ihren zweiten Ehemann in den Wellen verloren. Sie kann sich damit nicht abfinden und lebt wie die trauernde Mutter im Nō-Spiel in jener anderen, zum Totenreich hin geöffneten Wirklichkeit.

Stephan, ihr erster Mann und Vater des toten Kindes, ist aus Deutschland gekommen, um sie von ihrem „Wahn“ zu befreien. Unterstützt von den Dorfbewohnern will er sie zurück in die Realität des Alltags und nach Deutschland holen. Auf dem dramatischen Höhepunkt des Stücks stößt sie ihn jedoch zurück, und auch der anschließende Versuch, sie mit einem buddhistischen Gebetsritual – wiederum nach dem Vorbild des Nō-Stücks – zu heilen, schlägt fehl. Sie bleibt ungetröstet der anderen Welt zugewandt, allein mit ihrem Schmerz und ihrer Trauer. In der stark von japanischen Elementen geprägten Hamburger Inszenierung schreitet sie in der Schlussszene langsam über einen ansteigenden Steg rechts aus dem Bühnenraum hinaus. Der Steg ist ein obligates Requisit des Nō-Theaters, wo er symbolisch das Diesseits der Bühne mit dem außerhalb liegenden Jenseits verbindet.

Claudia als unheilbar verletzte Seele ist die Hauptfigur der Oper. Über ihre individuelle Tragik hinaus steht sie zugleich für ein aus den Fugen geratenes Verhältnis des Menschen zur Natur und auch für nachhaltig beschädigte spirituelle Gewissheiten. Der Tsunami hat die Menschen auch innerlich entwurzelt. In der Realität wurden durch die Folgekatastrophe des Reaktorunglücks in Fukushima die Ufer radioaktiv verseucht, so dass es den Überlebenden nicht mehr möglich war, nach den ans Land gespülten Toten zu suchen und mit den traditionellen Ritualen Abschied von ihnen zu nehmen. In der Oper ist Claudia die Einzige, die diese tragische Situation in ihrer vollen Bedeutung erfasst und durchlebt; die dramatische Szene, in der sie dieser Erkenntnis Ausdruck verleiht, ist einer der intensivsten Momente der Oper. Hier tritt der Requiem-Charakter, der das ganze Werk prägt, deutlich in Erscheinung.

Einflüsse des Nō-Theaters

In den Singstimmen dominiert über weite Strecken eine im Tempo gemessene, aber rhythmisch differenziert gestaltete Deklamation, die zwischen rezitativischem und ariosem Duktus unauffällig wechselt und sich zu lyrischen Bögen ausweiten kann. Ensemblepartien sind transparent gehalten, das Ausdrucksspektrum ist weit, die Worte werden sorgfältig ausgesungen, wobei stets auf Textverständlichkeit geachtet wird. Es ist der Tonfall des Nō-Theaters, der sich hier bemerkbar macht, auch in den vielen Vorschlagsnoten und kleinen Verzierungen, die den Hauptton verlebendigen und die Linie verflüssigen. Ein Sprechgesang wie im Nō wird jedoch vermieden, die exakte Tonhöhennotation beibehalten.

Die lineare Beweglichkeit der Singstimmen kontrastiert mit der statischen Harmonik. Hosokawa spricht von einem in der ganzen Partitur vorkommenden Mutterakkord, bestehend aus den Intervallen Tritonus und kleine Sekunde.[1] Dieser Intervallkern wird häufig erweitert zu variablen Konstellationen wie zum Beispiel c–des–es–e–b oder c–des–es–a etc., wobei die Tonhöhenfelder in ihrer Zusammensetzung zwar fluktuieren können, als Gesamtstruktur aber über längere Strecken stabil bleiben und so den Eindruck von ausgedehnten harmonischen Flächen erwecken. Diese gliedern die Form großräumig und können mit ihrer Einheit von Ruhe und Bewegung als musikalisches Symbol für das unsichtbar präsente Meer verstanden werden.

Die Orchesterbesetzung entspricht der eines normalen Sinfonieorchesters mit dem Zusatz von Harfe, Celesta und einem vergrößerten, um einige japanische Instrumente bereicherten Schlagzeugapparat. Die Instrumente decken die Singstimmen nie zu. Zu Beginn und im vierten Bild werden die tiefen Fellinstrumente zu einem mächtigen, von rechts nach links durch den Orchestergraben rollenden Schlagzeugdonner eingesetzt, der an die Musik der japanischen Kodō-Trommler erinnert. Ein knapp und treffsicher eingesetztes Klangbild für die tödliche Naturgewalt der Wassermassen. Ansonsten hält sich die Partitur mit illustrativen Wirkungen zurück, Naturklänge sind in den klanglichen Kontext gut eingebunden.

Das Meer als mehrdeutiges Symbol

Der Titel „Stilles Meer“ hat nicht nur illustrative Bedeutung. Das Meer spielt eine heimliche Hauptrolle und besitzt eine wechselnde Symbolik: Es ist zugleich Bedrohung und Tröstung, Ursache des aktuellen Geschehens und, als „natura naturans“, Symbol der Zeitlosigkeit. Es ist in der Oper omnipräsent, aber man sieht es nicht, man hört es nur. Am Anfang und am Schluss vermischen sich die diffusen Instrumentalklänge aus dem Orchestergraben mit den leisen und ortlosen, als „Ocean Sound“ bezeichneten Geräuschen aus dem Lautsprecher zu einem subtil eingefärbten Hintergrundrauschen.

Auch dieses kaum wahrnehmbare Rauschen ist ambivalent, wie vieles in der Oper, und steht sowohl für die immerwährende Ruhe des bewegten Wassers als auch für die gespenstische Stille vor der Ankunft der zweiten, tödlichen Welle des Tsunami. „So still das Meer. Tückisch still…“ sagt Stephan, die männliche Hauptfigur, in einem intensiven Moment der Erinnerung und des Schmerzes, und als Zeichen einer über dem Menschen stehenden Natur singt der Chor zu Beginn die poetischen, in entrückte Klänge gekleideten Zeilen, die im Laufe des Stücks wie ein Refrain mehrfach wiederkehren:

Ist die Nacht ohne Mond, frag die Sterne.
Ist die Nacht ohne Sterne, frag die Wellen.
Ist die Nacht ohne Wellen, frag die Wolken…
Vergehen die Berge?
Vergeht das Meer?
Vergeht der Himmel?
Am Schluss der Oper werden die letzten drei Zeilen variiert:
Vergehen die Berge, so weinet still.
Vergeht das Meer, so lächelt milde.
Vergeht der Himmel, so singet, ohne zu ruhn…

„Stilles Meer“ thematisiert den Schmerz und die Trauer der Menschen wie ein Requiem, und hier erreicht die Oper den Moment der Katharsis. Nach der Katastrophe erscheint auch die ewige Natur als etwas Vergängliches; das Verhältnis des Menschen zu ihr hat sich zwar unwiderruflich gewandelt, ist aber nicht zerstört.

Der Mensch im Spannungsfeld von Natur und Technik

Natur als poetische Metapher erfährt in „Stilles Meer“ eine Verwandlung und wird in einen Bezug zur heutigen Realität gesetzt. Das moderne Japan, angesiedelt im Spannungsfeld von uralter Naturverbundenheit und Spitzentechnologie, ist durch den verheerenden Tsunami an den Küsten der Provinz Fukushima und die Folgekatastrophe des Reaktorunglücks in seinem nationalen Selbstverständnis getroffen worden.

Schon seit längerem ist die Rede davon, dass die japanische Gesellschaft und nicht zuletzt die Jugend Schwierigkeiten hat, mit dem rasanten technologischen Fortschritt innerlich mitzuhalten. Die Offenbarung der rohen Naturgewalt im Monster-Tsunami von 2011 verstehen deshalb viele als Aufforderung, im unaufhaltsamen Prozess der Moderne eine Atempause einzulegen, wenn nicht sogar als Menetekel an der Wand der Industriegesellschaft überhaupt. Noch scheint es aber in der breiten Öffentlichkeit eine gewisse Scheu zu geben, diese Probleme gründlich zu diskutieren. Ein niedlicher kleiner Roboter, der zu Beginn über die Bühne geistert und mit monotoner Stimme den Beruhigungssatz wiederholt: „Sie befinden sich in der sicheren Zone“, steht in der Hamburger Inszenierung für die neu erwachte Skepsis gegenüber der scheinbar unfehlbaren Technik.

Solche Zweifel lässt auch Toshio Hosokawa in einem Kommentar zum Werk anklingen: „Das Tōhoku-Erdbeben und der Tsunami im Jahr 2011 sowie die dadurch ausgelöste Atomkatastrophe ließen mich erneut über Naturgewalten und die menschliche Arroganz nachdenken. Meine Musik entsteht in tiefem Einklang mit der Natur und soll dazu anregen, einmal mehr zu reflektieren, dass die Menschheit die elementare Kraft der Natur gleichermaßen respektiert wie fürchtet, und wie sie bei dem Versuch, die Natur zu kontrollieren und zu dominieren, diese letztendlich zerstört.“[2]

Max Nyffeler

Rezension der 2016 erschienenen DVD
siehe auch die Oper „Erdbeben. Träume“ (2018)

Anmerkungen

[1] Programmheft der Uraufführung vom 24. Januar 2016, Hamburgische Staatsoper, S. 23.
[2] Programmheft Hamburg, S. 4

Eine leicht veränderte Printversion ist erschienen in der Neuen Zeitschrift für Musik Nr. 2/2016, S.  44-47.

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