Toshio Hosokawas Oper „Erdbeben. Träume“

Toshio HosokawaZweieinhalb Jahre nach der Hamburger Uraufführung der Oper „Stilles Meer“ hatte jetzt in Stuttgart mit „Erdbeben. Träume“ ein neues Bühnenwerk von Toshio Hosokawa Premiere. Damals ging es um das Verhalten der Menschen nach der Tsunami-Katastrophe von Fukushima, nun lieferte die Erzählung „Das Erdbeben in Chili“ von Kleist die Vorlage. Beide Male eine Naturkatastrophe, die das Leben der Menschen von Grund auf erschüttert, beide Male ein tragisches Ende. Während es aber in „Stilles Meer“ darum ging, wie die Betroffenen das Geschehen verarbeiten, also um individuelle seelische Prozesse, steht jetzt in „Erdbeben. Träume“ ein gesellschaftlicher Konflikt im Zentrum. Ein junges Paar, dessen Verhalten nicht mit der herrschenden Moral übereinstimmt, wird von einer aufgehetzten Volksmenge, der durch die Notlage jedes zivilisatorische Verhalten abhanden gekommen ist, in einem Anfall kollektiver Triebabfuhr gelyncht.

Das packende Thema ist musikalisch überzeugend verarbeitet und szenisch schlüssig umgesetzt, und das Publikum versteht spontan, dass das, was Kleist vor zweihundert Jahren in dieser Geschichte verhandelt hat, das Thema des Zivilisationsbruchs, an Aktualität nichts eingebüßt hat. Auch in der dritten Vorstellung war der Saal des Stuttgarter Staatstheaters noch praktisch voll. Was man nicht von jedem neuen Bühnenwerk sagen kann.

In den Klängen lauert das Unheil

Das Libretto schrieb der Kleist-Preisträger Marcel Beyer. Er hält sich inhaltlich an Kleists Novelle, erzählt sie aber mit eigenen Worten: kurze, stenogrammartige Sätze, in denen die Brutalität und die Ausweglosigkeit des Geschehens in harten, stellenweise drastischen Formulierungen ihren Widerhall finden. Die sprachliche Struktur kommt Hosokawas Handschrift entgegen. Er schreibt für die Singstimmen weit ausholende, durch getrennte Pausen Melodiebögen, die oft in einen Atem hineinpassen; sie beginnen oder enden in einer Art Rezitationston und sind in klar definierte harmonische Felder eingebettet. Die Deklamation ist nicht dramatisch, sondern reflektierend, die Figuren handeln nicht, sondern beschreiben singend Zustände: ihre Empfindungen, die Hoffnungslosigkeit, die bedrückende Atmosphäre.

Das Orchester kommentiert und unterstützt die wechselnden Stimmungen mit verhaltener Unruhe, und das Unheil, das in den lange gehaltenen Klängen lauert, entlädt sich in kurzen, heftigen Ausbrüchen. Andererseits schafft die Musik auch Distanz, manchmal klingt sie, als ob sie das Geschehen von außen betrachten würde. Eine Klangdramaturgie, welche die emotionalen Abgründe auf manchmal erschreckende Weise ausleuchtet und vom Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Sylvain Cambreling mit packender Intensität nachgezeichnet wird, gerade auch da, wo es ruhende Klänge über längere Zeitdauern am Leben zu halten gilt. Musikalisch hervorragend eingestimmt sind die Chöre, der Staatsopernchor und der Kinderchor, denen durch das ganze Stück hindurch eine aktive Rolle zufällt. Insgesamt ergibt sich ein gedehnter, innerlich sorgfältig gegliederter Zeitfluss, ein hundertminütiges, spannungsreiches Adagio.

Ungefähr bei Minute siebzig kippt dieser Adagio-Charakter plötzlich in einen aggressiven, dramatischen Gestus um, als sich die Frustration der Menge in übler Hetze und schließlich der Tötung der Geächteten entlädt. Der Schluss gehört musikalisch dann wieder der Statik. Die Ansätze einer Katharsis werden überlagert von Gefühlen der Trauer und des hilflosen Entsetzens über die Gewalt, die unter der Oberfläche dieser – unserer? – Gesellschaft lauert. Musikalisch und von der Zeitgestaltung her stellt sich der Einakter damit als eine Bogenform dar: ein gigantischer Atemzug mit einem konvulsivischen Höhepunkt, dessen Anfang und Ende tatsächlich durch instrumentale Atemgeräusche markiert werden, die aus der Stille entstehen und wieder in ihr verschwinden.

Die Meute, Menschen wie du und ich

Jossi Wieler, der mit dieser Inszenierung seine Tätigkeit als Opernintendant in Stuttgart beendete, holt die Geschichte auf zurückhaltend-reflektierte Weise in unsere Gegenwart hinein. Im Einheitsbühnenbild von Anna Viebrock, in dessen Zentrum eine Wohnhausruine in moderner Mies van der Rohe-Architektur steht, lässt er die Volksmenge fast durchgehend anwesend sein, als sichtbare, latente Bedrohung der zu Außenseitern erklärten „Anderen“. Die Menge trägt quer durch alle Altersschichten bunte, moderne Freizeitkleidung – Leute wie du und ich. Die beiden Agitatoren haben es leicht, die hinter der Fassade einer amorphen Gleichgültigkeit brodelnden Emotionen in tödliche Aggressionwut zu verwandeln. Die Morde geschehen hinter einer Wand von Leibern, sie sind nicht sichtbar. Im Hintergrund auf einer Brücke machen die Zuschauer derweil wie auf dem Fußballplatz „la ola“. Wenn die Meute abgezogen ist, liegt neben einem der Getöteten eine Kippa am Boden. Mit knapper Zeichensprache verortet Wieler die Handlung dort, wo es für deutsche Zuschauer am meisten weh tut.

Mit den gedehnten Zeitstrecken, die Hosokawas Musik vorgibt, hatte Wieler Mühe, zumal dann, wenn nicht gesungen und alles nur in Tönen erzählt wird. Er überbrückte das durch kleine anekdotische Aktionen, und um dem Horror vacui zu entkommen, ließ er außerdem eine Nebenrolle in pantomimischer Form die Handlung durch das ganze Stück hindurch begleiten. Das geschah immerhin sehr diskret und ging erstaunlich gut auf. Zwei Auffassungen von Theater, zwei Arten der Zeitempfindung, letztlich zwei Kulturen, eine japanische und eine deutsche, stießen hier in produktivem Widerspruch aufeinander.

Das japanische und das deutsche Trauma

Der Japaner Hosokawa sieht in „Erdbeben. Träume“ mehr das Versagen des Menschen angesichts unkontrollierbarer äußerer Einflüsse. Ihn interessiert primär die psychische Dimension: die Grausamkeit, die im Menschen schlummert, und die seelischen Verwüstungen, die entfesselter Hass anrichten kann. Und die Trauer. Weil hier wieder eine Naturkatastrophe das Drama auslöst, könnte man seine Oper auch als Versuch sehen, das tiefsitzende Trauma der Katastrophe von Fukushima nach der vorigen Oper „Stilles Meer“ ein zweites Mal zu verarbeiten. Oder sollte man noch weiter zurückgehen bis zur Urkatastrophe vom 6. August 1945, als die Atombombe über Hosokawas Heimatstadt Hiroshima abgeworfen wurde? Das Ereignis hat sich tief in das kollektive Unterbewusstsein der Japaner eingegraben.

Der in der Schweiz geborene Deutsche Wieler deutet dagegen den Stoff viel stärker politisch. Im Zentrum steht für ihn das konfliktgeladene Verhältnis Individuum-Kollektiv, das Schicksal einer diskriminierten Minderheit in einer intoleranten Mehrheitsgesellschaft und die Zerstörungsgewalt, die von einer ideologisch verblendeten Masse ausgehen kann. Das könnte man partiell auf die aktuelle Immigrationsproblematik beziehen. Doch die brutale Schärfe der Formulierung von Libretto und Musik lässt fast zwangsläufig nur den Gedanken an den Vernichtungswillen der Nationalsozialisten zu. Wieler verbindet damit die Frage: Und wie weit sind wir heute? Im Moment, da sich das Unheil zusammenbraut, lässt er das Saallicht einschalten, eine brechtische Geste, die das Publikum zum Nachdenken bringen soll.

Die Erinnerung an den Holocaust im Hinterkopf, versucht sich hier ein Regisseur an der Bewältigung des deutschen Traumas. Was ihm angesichts der Ungeheuerlichkeit des Gegenstands so wenig gelingen kann wie Hosokawa die Bewältigung des japanischen. Komponist und Regisseur haben einen unterschiedlichen Erfahrungshintergrund und kommen aus verschiedenen Richtungen. Doch in diesem Punkt treffen sie sich.

Oper Stuttgart, Inszenierungsdetails

Uraufführung: 1.7.2018. Besuchte Vorstellung: 11.7.2018

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