Vinko Globokar:
Gespräch über „Exil 3“

Max Nyffeler: Vinko Globokar, das oratorische Werk, das 2015 bei der Münchner Musica Viva uraufgeführt worden ist, heißt Exil 3 . Was sind Nr. 1 und 2?

Vinko Globokar: Vor vier Jahren hat mich in Hannover eine Gruppe von Musikern aus dem alten Jugoslawien um eine kleine Komposition gebeten. Damals las ich gerade das Buch „Cent poèmes sur l’exil“ (Le Cherche Midi Éditeur, Paris 1993). Daraus habe ich einige Texte ausgesucht und ein Stück für fünf Musiker und eine Sopranistin geschrieben. Das war L’Exil No. 1. Die Nr. 2 blieb ein Versuch. Dann kam der Auftrag aus München, und dafür habe ich, ausgehend von L’Exil No. 1, nun Exil 3 geschrieben, ein großes Werk von etwa fünfzig Minuten Dauer. Das Orchester besteht aus 32 Soloinstrumenten, die fünf Streicher sind verstärkt. Dazu kommen 48 Chorsänger und vier Solisten: ein hoher Sopran, ein Rezitator, ein Kontrabassklarinettist und ein anonymer Improvisator, den man nicht sehen soll.

Welche Rolle spielt die Improvisation in diesem Stück?

Die vier Solisten treten auf dem Höhepunkt des Werkes mit einer Improvisation hervor. Sie kennen einander kaum und stellen sich hier

Exil 3, Partiturausschnitt Improvisation
Exil 3, Partiturausschnitt: Improvisation. © Max Nyffeler

gemeinsam vor. Diese Stelle fällt aus dem Kontext heraus und wirkt wie ein Bruch. Auf alle Fälle ist es eine Überraschung, vielleicht auch ein Risiko. In Anlehnung an Brecht nenne ich das einen Verfremdungseffekt.

Hast du dazu Vorgaben gemacht?

Formell ja. Der Solist fängt an, dann kommt die Sängerin, dann der Sprecher und zum Schluss der Improvisator. Aber was sie im Einzelnen machen, ist weitgehend frei.

Improvisation und Komposition

Warum soll der Improvisator anonym bleiben?

Weil ein Improvisator nicht genannt werden sollte.

Das musst du genauer erklären.

Improvisieren ist eine völlig andere Art des Musikmachens als das Spiel nach Noten. Ich habe in den siebziger und achtziger Jahren mit der Gruppe New Phonic Art etwa 150 Konzerte gegeben, bei denen wir zur Vorbereitung kein Wort gesagt haben. Wir sind einfach auf die Bühne gegangen, jeder mit seinen Instrumenten. Auch nachher haben wir nie über das Gespielte gesprochen. Bei dieser Art von Musikpraxis, die auf spontanem Reagieren beruht, ist das Risiko natürlich enorm. Es gab Konzerte, die ein totales Desaster waren und bei denen das Publikum in Scharen davonlief. Aber manchmal entsteht dann etwas, das keine komponierte Musik erreichen je kann.

Also immer volles Risiko?

Violà. Und mit diesem improvisierten Einschub in Exil 3 möchte ich einen Stimulator schaffen, der das komponierte Gebäude ins Wanken bringen soll.

Partiturausschnitt Exil 3
Vinko Globokar: Partiturausschnitt Exil 3. © Max Nyffeler

Du hast immer diese doppelte Praxis verfolgt: Hier der Komponist und der Interpret, der nach Noten spielt, dort der Improvisator. Hat sich das auch vermischt?

In einem komponierten Werk kam ich nie in die Versuchung, dem Interpreten zu sagen: Mach irgendwas. Ich hasse das. Entweder ich komponiere und dann bin ich verantwortlich für alles. Oder ich improvisiere und dann bin ich nur für mich selbst verantwortlich und schreibe auch den Kollegen nichts vor; ich bin nur einer von mehreren.

Und bei den Soloperformances, bei denen du mit der Posaune, dem Körper oder der Stimme arbeitest: gibt es da auch Improvisation?

Nein, ich improvisiere nie allein. Wenn man allein improvisiert, dann liefert man nur ab, was man schon weiß. Die Idee der Improvisation ist es, auf Andere zu reagieren, durch Imitation, Entwicklung, Gegenrede etc. Deshalb sind die Solostücke alle komponiert.

Exil als Literatur und als Erfahrung

Sprechen wir über Exil 3. Eine Textbasis bilden die erwähnten „Hundert Gedichte über das Exil“.

Cent poèmes sur l'exil
Gedichtband „Cent poèmes sur l’exil“. © Max Nyffeler

Von neunundvierzig Gedichten aus diesem Band – jedes stammt von einem anderen Autor – habe ich je einen aussagekräftigen Vers genommen und lasse sie vom Sopran singen. Die Verse habe ich in sieben Sprachen übersetzt, so dass sie weitgehend unverständlich sind. Damit möchte ich dem Publikum zeigen, wie es ist, wenn man als Fremder in ein anderes Land kommt und nichts versteht. Ich versetze also das Publikum in die Lage eines Emigranten. Daneben gibt es einen zweiten Text mit dem Titel „Das Leben des Emigranten Edvard“, und den spricht der Rezitator. Das ist ein Prosatext, den ich selbst geschrieben habe und den Peter Handke vom Slowenischen ins Deutsche übersetzt hat. Er soll verständlich sein und wird deshalb bei einer Aufführung in der jeweiligen Landessprache vorgetragen.

Dieser Text hat eine starke autobiografische Komponente.

Absolut. Aber ich sage nicht, wer Edvard ist.

Du bist slowenischer Herkunft, aber in Frankreich geboren, wo du große Teile Deines Lebens zugebracht hast. Als was fühlst du dich jetzt? Als Franzose? Als Slowene?

Ich betrachte mich als Europäer.

Das ist aber ein Konstrukt. Die Frage nach der Herkunft lässt sich nicht wegdiskutieren. Davon handelt ja auch dein Text: Er ist eine Art Genealogie von Edvards Familie.

Richtig. Aber nehmen wir einmal meine eigene Biografie: Das ist eine Mischung. Ich bin in Frankreich aufgewachsen und mit dreizehn weggegangen. Dann habe ich in verschiedenen Ländern gelebt: 22 Jahre in Deutschland, 19 Jahre in Italien, 4 Jahre in Amerika, aber am längsten in Frankreich. In Slowenien war ich nur etwa sieben Jahre.

Also doch eher Franzose.

Kulturell auf jeden Fall. In dem lothringischen Bergarbeiterdorf, wo ich aufwuchs, kam ich als Kind erstmals mit Musik in Berührung und lernte Akkordeon und Klavier. Mit dreizehn schickten mich meine Eltern dann nach Ljubljana ins Gymnasium. Aber ein tieferes kulturelles Interesse erwachte bei mir erst mit einundzwanzig, als ich wieder in Frankreich war.

Und warum gingst du wieder nach Frankreich zurück?

Das war ein Zufall.

Klingt interessant.

Ist es auch. In Slowenien wurden damals zwei Stipendienaufenthalte vergeben, vier Monate in Wien und ein Jahr in Paris. Für mich war Wien vorgesehen, und für einen Physikstudenten Paris. Im Büro des Kulturministeriums, wo wir unsere Bahnfahrkarten abholen sollten, stellte sich heraus, dass ich nur Französisch und der andere nur Deutsch konnte. Also tauschten wir die Fahrkarten und das Stipendium. So landete ich zufällig in Paris. Alles Wichtige geschah bei mir durch Zufall.

Sag jetzt bloß nicht, dass du auch aus Zufall Posaunist geworden bist.

Doch, so ist es! Während der Schulzeit in Ljubljana spielte ich in einem kleinen Tanzorchester Akkordeon, und dann hieß es: Lerne Trompete, das brauchen wir. Doch ich hatte kein solches Instrument. Da kam jemand mit einer Posaune, und so habe ich eben mit vierzehn Posaune gelernt. Das Instrument hatte ich vorher nie gesehen. Vier Jahre später wurde ich dann auch Posaunist in der Big Band von Radio Ljubljana.

Tagsüber Komposition und abends Mucken mit Edith Piaf

Am Pariser Conservatoire hast du dann richtig Posaune studiert…

… wobei ich mir das Geld für das Studium in den Jazzkellern von St. Germain des Prés verdient habe. Da habe ich auch Chansonniers wie Gilbert Bécaud, Charles Aznavour und Edith Piaf begleitet.

Und dein Kompositionsstudium?

Das war bei René Leibowitz. Er hatte übrigens auch eine Art Salon, wo Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre oder der Maler André Masson verkehrten. Damals wurde mir bewusst, dass ich zu wenig weiß.

Du hast Sartre gekannt?

Ich bin ihm nur einmal begegnet, aber ich verfolgte seine Auseinandersetzung mit Leibowitz über die engagierte Kunst. Sartre sagt in „Situations II“, dass nur Literatur engagiert sein kann. Leibowitz schrieb hingegen in seinem Text „Le musicien engagé“, dass das Engagement eines Künstlers von seinem ganzen Verhalten getragen wird, nicht nur von Worten.

Das hat Dich beeinflusst?

Ja.

Wie war der Unterricht bei Leibowitz?

Ich habe viel gelernt, aber er hörte bei Schönberg und Webern auf. Die aktuelle Musik habe ich erst in den Konzerten, die Boulez damals im Odéon dirigierte, kennengelernt. Zunächst habe ich überhaupt nichts verstanden. Dann habe ich Berio kennengelernt und ging ein Jahr lang zu ihm nach Berlin zum Studium.

Vinko Globokar mit der Partitur von Exil 3
Vinko Globokar 2014 in seiner Pariser Wohnung mit der Partitur von Exil 3. © Max Nyffeler
Zuletzt kommt der Sensenmann

Eine Existenz, die auf Zufälligkeiten beruht, ist typisch für einen Emigranten. Wie zeigt sich dieses Prekäre in Exil 3?

Unter anderem in den Gedichttexten, die ich ausgesucht habe; sie zeigen die Isoliertheit des Individuums in der Fremde. Musikalisch zeigt es sich in der prekären Form und in vielen Details.

Einer der Schlagzeuger wetzt am Schluss eine Sense. Wieso?

Sie ist ein Symbol des Todes. Der Tod hat immer eine Sense. Das war für mich eine Geste, um das besondere Schicksal des Emigranten zu beschreiben. Er hat einen anderen Tod als derjenige, der immer zu Hause geblieben ist.

Inwiefern?

Er hat viele Länder gesehen und viel Hass erfahren. Der Hass auf die Emigranten ist furchtbar. Und er stirbt in der Fremde. Deswegen ist auch sein Tod härter.

Vinko Globokar 1997
Vinko Globokar beim Grasmähen 1997 in Žužemberk (Slowenien). © Max Nyffeler

Vinko Globokar, geboren am 7. Juli 1934 in Anderny (Frankreich) schrieb sein rund 50 Minuten dauerndes Werk Exil 3 für Soli, Chor und Orchester im Auftrag der Münchner Musica Viva. Die Uraufführung erfolgte am 20. Februar 2015 im Münchner Herkulessaal. Interpreten waren Piia Komsi (Sopran), Bruno Ganz (Erzähler),
 Michael Riessler (Kontrabassklarinette), Vinko Globokar (Improvisator), der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Peter Eötvös. Die Klangregie hatte Zoro Babel.

Große Teile des vorliegenden Interviews wurden in der Musica-Viva-Beilage der Neuen Musikzeitung (NMZ) Nr. 2/2015 veröffentlicht. Eine gekürzte Fassung erscheint im Booklet zur CD, die im Frühjahr 2017 bei Neos herauskommt.

Das Interview entstand am 15.12.2014 in Paris. Die Fragen stellte Max Nyffeler.

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