Vinko Globokar, Konstrukteur prekärer Wirklichkeiten

1971 komponierte Vinko Globokar das rund neunminütige Stück „Atemstudie“ für Oboe solo für seinen Musikerkollegen und Freund Heinz Holliger. Der Atem wird hier als eine Art Generator behandelt, der die Tonproduktion der Oboe antreibt. Es ist ein enorm kräftezehrendes Stück und verlangt vom Interpreten höchsten Körpereinsatz. Im ganzen Stück gibt es praktisch keine Atempause, der Interpret muss beim Ein- und Ausatmen spielen.

Das Stück ist beispielhaft für Vinko Globokars musikalische Auffassungen. Der Körper mit allen seinen expressiven Funktionen, also das, was im weitesten Sinn als „Körpersprache“ bezeichnet werden kann, steht im Zentrum seines Komponierens, und zwar in mehreren Funktionen: Der Körper ist Instrument, er ist physischer Sitz des musikalischen Ichs (also Subjekt), er ist Reflexionsgegenstand (also Objekt des Bewusstseins) und Demonstrationsobjekt (für das Publikum).

Der vervielfachte Körper

Dieser Körper wuchert aus. Er wird zum Akteur, der alles in seine Aktionen einbezieht: Zunächst verlängert er sich im Blasinstrument, durch das der Atem strömt; dann vergegenständlicht er sich auch in allerlei Hilfsobjekten vom Posaunendämpfer bis zum Verlängerungsschlauch an der Tuba; genau genommen sind das keine Verlängerungen der Instrumente, sondern zusätzliche Verlängerungen des Körpers über die Instrumente hinaus. Und diese körperlichen Extensionen setzen sich fort bis zum Hyperinstrument, bestehend aus Flöte, Klarinette und Oboe, wie in einem Abschnitt von „Avgustin, dober je vin“.

Vinko Globokar bei der Probe
Vinko Globokar bei der Probe von „Avgustin, dober je vin“ (Ensemble Boswil 2008). ©Max Nyffeler

Oben bläst der Oboist hinein, die Luftsäule wird durch die Klarinette und Flöte verlängert und der Klang auf jedem der drei Instrumente durch Klappenbewegungen modifiziert. Nicht nur das Instrument, sondern auch der Interpret wird verdreifacht. Mit anderen Worten: Das klangproduzierende Ich, der Interpret, setzt sich aus drei Individuen zusammen.

Aber bei Vinko Globokar geht es noch weiter: Der Körper projiziert seine Aktionen in den Raum, das Konzertpodium wird damit zur Theaterbühne und die Mitspieler werden zu Mitakteuren, die ihren Körper in gleicher Weise einsetzen.

Gemeinschaft

Dieses Moment des Zusammenwirkens verweist auf eine zweite charakteristische Eigenschaft von Vinko Globokars Komponieren: Er ist immer der untypische Avantgardist gewesen. Er verhielt sich nie exklusiv, sondern immer inklusiv. Das heißt: Anstatt sich einzuigeln, sein Ich im Werk zu überhöhen, sich das Material zu unterwerfen oder sich dahinter zu verstecken – also statt andere aus seiner Welt auszuschließen, zu exkludieren, oder sie höchstens als Zaungast zuzulassen, hat er immer inklusiv gehandelt: Seine Kompositionen rufen auf zum Mitmachen, sie sind in höchstem Masse aktivierend und gemeinschaftsbildend. Zu erwähnen wären in diesem Zusammenhang etwa die Kompositionen der Reihe „Discours“, wo Globokar die solistisch erarbeiteten experimientellen Techniken der Klangerzeugung – also ein exklusives Wissen – auf Gruppen gleicher Instrumente überträgt: 5 Posaunen, 5 Oboen, 3 Klarinettisten, 4 Saxophone und Streichquartett. Oft hat er das auch mit Studierenden erarbeitet, und es versteht sich von selbst, dass er bei „Discours II“ für fünf Posaunen häufig auch selbst mitspielte.

Die Musik von Vinko Globokar ist extrem konkret im Klang und seiner Hervorbringung, und sie wendet sich an ebenso konkrete Menschen: Zunächst an die Mitspieler, die im Moment der Aufführung an der Konstruktion und Destruktion des durch die Notation definierten Werks aktiv beteiligt sind (zu diesen Stichworten gleich noch mehr). Dann auch an die Zuhörer, die er nicht als amorphe Publikumsmasse versteht, sondern als eine Gemeinschaft. Als im Jahr 2000 in Donaueschingen der erste Teil des Orchestertriptychons „Der Engel der Geschichte“ uraufgeführt wurde, schrieb er in einem im Programmheft abgedruckten Brief an Armin Köhler:

„Ich bin in meinem Leben als Interpret einer Menge von Zuhörern begegnet, aber ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass es nicht ein Publikum ist, das ich vor mir habe, sondern Individuen, von denen nicht zwei dieselben Lebenserfahrungen haben.“

Vinko Globokar mag das Denken in Oberbegriffen nicht. Für ihn zählt der/die/das konkrete Einzelne. Die Person in Fleisch und Blut:

„Wenn ich meine Musik erklären soll, fühle ich mich nur wohl, wenn ich einem Gesprächspartner in die Augen sehen kann oder wenn ich den Adressaten eines Textes persönlich kenne. Ich habe niemals an der Bar ein Glas mit dem Publikum getrunken, sondern mit Jean oder Jeanne. Ich habe auch niemals ein Glas am Tresen geleert mit einer Nation, sondern mit Boris oder Carolyn.“

Und noch etwas: Bei Globokars klein besetzten Werken kann man nicht mehr von Kammermusik sprechen. Es handelt es sich um experimentelle Werke, die am Gitter rütteln, in das sie der Komponist planvoll gesteckt hat; die radikalsten von ihnen entstanden in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren. Ihre Klänge und die damit verbundenen Aktionen sprengen die „Kammer“ – das war ja ursprünglich das Privatgemach des Fürsten – und drängen ins Freie, Undomestizierte und Ungeschützte. Damit sprengt Globokars Musik auch die Bindungen an die traditionellen Räumlichkeiten und damit die bisher geltenden Aufführungsbedingungen. Das institutionelle Gefüge der Musik, das bis dahin auch für die sogenannt „neue“ noch weitgehend Gültigkeit hatte, wird in Frage gestellt.

Dialektik von Konstruktion und Destruktion

Und nun zu den Stichworten Konstruktion und Destruktion: Da komme ich auf Globokars Musikerkollegen Holliger zurück. Die beiden haben sich immer hervorragend verstanden, obwohl sie vom Typ her ganz unterschiedliche Menschen sind. Globokar bewunderte Holligers musikalische Intelligenz, die, wie er sagt, keine rein instrumentale sei, sondern ebenso eine kompositorisch-analytische.

„Natürlich bewundert man seine Technik, seine Phrasierung etc. Aber ich bewundere Holliger mehr für seinen Kopf, nicht für seine Finger“,

sagte Vinko Globokar in einem Interview, das ich 1998 mit ihm führte. Und dann, auf die Frage, was denn Holliger wohl an ihm schätze, antwortete er:

„Ich habe einmal in irgendeinem Buch gelesen, wie er sich über mich geäußert hat. Er sagte, als Komponist sei ich wie ein Architekt, der ein sehr kompliziertes Gebäude konstruiere und gleichzeitig schon Bomben reinlegen würde, um dieses Gebäude zu zerstören.“

Holligers Bild mit der Bombe ist ein Volltreffer. Und hier zeigt sich auch das im weitesten Sinn Politische an Globokars körperbezogenem Musikbegriff. Kraft und Gegenkraft, Expansion und Kontraktion, Ein- und Ausatmen bedingen sich gegenseitig im Heraklitischen Sinn von „gegenstrebiger Fügung“ (eine Begriffsprägung, die auch ein feinsinniger Musiker wie Hans Zender gern zitiert).

Aus diesem Kampf der Gegensätze entsteht das Bild einer kraftstrotzenden und doch absolut gefährdeten musikalischen Aktion, bei der nicht nur das Klangkonstrukt, sondern auch der Akteur selbst jederzeit zusammenbrechen könnte. Man kann das zunächst einmal als eine Art existienziellen Selbstversuch sehen; man kann es aber auch als Symbol, vielleicht sogar als Menetekel für die Hinfälligkeit jeder Art von Macht begreifen, sei es die Macht des Komponisten und Interpreten über die Töne, seien es im übertragenen Sinn die Machtstrukturen der Gesellschaft.

Kaum ein anderer Komponist hat es geschafft, derartig solid gebaute, absolut rationale und gut durchdachte Partituren zu schreiben und gleichzeitig auf raffinierte Weise die Lunte an das so planvoll konzipierte Werk zu legen. Es wird nicht durch äußere Einwirkung zum Einsturz gebracht, sondern von innen heraus. In seinen experimentellen, performanceähnlichen Werken ist es der von einem wachen Intellekt gesteuerte Körper, der mit seiner manchmal rohen Kraft die Musik erschafft und zugleich zertrümmert.

Dieser Prozess des Erschaffens und Zerstörens ist bei vielen Werken der eigentlich Inhalt: Es geht um die Herstellung einer prekären Realität, die jederzeit vom Einsturz bedroht ist. Bei „Atemstudie“ wird zu Beginn der Klang im Wortsinn so lange aufgeblasen, bis er implodiert. In „Res/As/Ex/Inspirer“ nähert sich der Interpret durch die fast übermenschliche Beanspruchung von Lunge und Herz auf Dauer dem Kollaps.

Partitur Res/Es/As/Inspirer
Vinko Globokar: Seite 1 der Partitur „Res/Ex/As/Inspirer“. (By courtesy of C.F. Peters)

(…)

Auszug aus einem Referat zum Thema „Der politische Körper. Zur Musizierpraxis von Vinko Globokar“, gehalten am 2.12.2017 in Zürich bei einem dem Komponisten gewidmeten Symposium an der ZHDK.

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