Die „Visions de l’Amen“ für zwei Klaviere von Olivier Messiaen sind ein Klanggemälde von barocken Dimensionen.
„Die Engel allein genießen das Privileg, miteinander zu kommunizieren ohne Sprache, ohne Konvention und – noch viel wunderbarer – ohne der Zeit und dem Ort Rechnung zu tragen. Das ist eine Macht, die uns vollkommen übersteigt, eine fast erschreckende Fähigkeit der Übertragung“,
notierte der Komponist im Zusammenhang mit seinem Orgelstück „Méditations sur le Mystère de la Sainte Trinité“. Engel hatten in seinem musikalischen Weltbild einen festen Platz. Sie erscheinen, zusammen mit zwei weiteren festen Größen, auch den „Visions de l’Amen“: „Amen des anges, des saints, du chant des oiseaux“ (Amen der Engel, der Heiligen, des Vogelgesangs) heißt das fünfte der sieben Stücke.
Es sind Visionen, keine konkreten „Blicke“ wie ein Jahr später in den „Vingt regards sur l’enfant-Jésus“, die Messiaen in diesem monumentalen Zyklus für zwei Klaviere Klang werden lässt. Mit einer beeindruckenden Fantasieleistung entwirft er ein klangliches Universum von barocken Dimensionen – eine musikalisch-theologische Kosmogonie, in der Diesseits und Jenseits verschmelzen und der lebendige Mensch im Kreise der Himmlischen wandelt. Überstrahlt wird das alles von der Apotheose des auferstandenen Christus.
Das archetypische, religionsübergreifende Wort „Amen“ deutet Messiaen auf vierfache Weise: „Es sei“ (der Schöpfungsakt), „Dein Wille geschehe“ (die Unterwerfung), „Ich gebe mich dir hin“ (Wunsch der gegenseitigen Hingabe unter Menschen) und „So ist es für alle Ewigkeit“ (die Vollendung). Messiaen bezieht sich dabei einerseits auf die Bibel, andererseits auf den katholischen Autor und Theologen Ernest Hello (1828-1885), dessen Buch „Paroles de Dieu“ ein Kapitel mit Meditationen über das Wort „Amen“ enthält.
Klangzauberei und konstruktives Denken
Die sieben „Visions de l’Amen“ sind keineswegs spontane Ergüsse eines romantischen Schwärmers, sondern von einem starken konstruktiven Geist durchdrungen. Die beiden Klavierparts sind von ihrer Struktur her klar unterschieden. Dem ersten Klavier sind die komplizierten Rhythmen und Tontrauben, die virtuosen Passagen und, wie Messiaen anmerkt, „die ganze Klangzauberei“ anvertraut. Das zweite Klavier ist für die melodischen Linien, die Hauptthemen und alles, was Kraft und Emotion erfordert, zuständig. Die Arbeitsteilung war ganz auf die beiden Uraufführungsinterpreten zugeschnitten: Die technisch schwierige Partie spielte die junge, brillante Yvonne Loriod, die hier zum ersten Mal mit Messiaen auftrat, die kräftige Messiaen selbst.
Es gibt mehrere Themen, die den Gesamtzyklus durchziehen. Das dominanteste ist das „Schöpfungsthema“, das dem ersten Stück, dem „Amen de la Création“, den Stempel aufdrückt; es taucht später unter anderem im dritten Teil mit dem Kreuzestod Jesu und im fünften Teil mit den Engeln, Heiligen und Vögeln, vor allem aber am Schluss, im „Amen der Vollendung“, wieder auf.
Das Eröffnungsstück ist auch in rhythmischer Hinsicht bemerkenswert. Während das zweite Klavier viermal – und jedes Mal eine Oktave höher – das in breiten Notenwerten angelegte, geradtaktige Schöpfungsthema intoniert, entfaltet sich im ersten Klavier ein komplexes kanonisches „Geläut“ aus zumeist „unumkehrbaren“, das heißt vorwärts und rückwärts gleichlautenden Rhythmen. Der Satz beginnt in den leisesten Registern und steigert sich in einem mächtigen Crescendo zum dreifachen Forte.
Der zweite Satz, das „Amen der Sterne und des Ringplaneten“ (Saturn), ist nach Messiaens Worten ein „brutaler und wilder Tanz“. Das zweite Klavier tritt mit der Verarbeitung des kurzen, gehämmerten Unisono-Themas auch solistisch hervor. Messiaen bezieht sich hier auf die Beschreibung der Himmelkörper in der Griechischen Apokalypse von Baruch, dem Schreiber des Propheten Jeremia.
Todesqualen und Engelsgesang
Das „Amen de l’Agonie de Jésus“ ist eine fast illustrative Schilderung der Todesqualen Jesu am Kreuz. Temposchwankungen, Innehalten, eine klagende Melodik und Gesten des Weinens – „douloureux, en pleurant“ – prägen den Satz. Durch die Pedalisierung in Verbindung mit Akkordstruktur und tiefer Lage ergeben sich mysteriöse Nachhalleffekte – Geräuschklänge, wie sie ein Tamtam hervorbringt.
Das nachfolgende „Amen du Désir“ bildet dazu einen größtmöglichen Kontrast. Es ist das zentrale und auch längste Stück des Zyklus. Die erotisierenden Klänge wollte Messiaen nicht fleischlich („charnel“) verstanden haben, sondern als Ausdruck eines gesteigerten Liebesdurstes. Die Dreiklänge mit angefügter Sexte klingen nach dem Broadway der Dreißiger- und Vierzigerjahre – für Messiaen kein Problem. Er sagte: „Christus ist für alle gekommen, auch für die schlechten Musikanten.“
Im fünften Satz erklingt zuerst der Engelsgesang, inspiriert vom Lobpreis der Engel im siebten Kapitel der Offenbarung, und dann kommen, längst überfällig, Messiaens Vögel in bunter Vielstimmigkeit zum Zug: Nachtigall, Amsel, Buchfunk und Grasmücke.
Im harten Dreitonmotiv des „Amen des Gerichts“ erklingen noch die Glocken der Wahrheit, die die Sünder zur Umkehr mahnen, dann folgt der hymnische Abschluss des Zyklus im „Amen der Vollendung“. Das „Schöpfungsthema“ wird nun von wildem Glockengeläut begleitet – eine überwältigende klangliche Allegorie der Fülle und Vollkommenheit der Schöpfung. Die pianistische Tour de Force kulminiert im gleißend hellen Klang der Schlusstakte und im absoluten Höhepunkt des finalen A-Dur-Akkords.
Ein kulturelles Ereignis im besetzten Paris
Die „Visions de l’Amen“ entstanden 1943 während des Kriegs. Die vorbehaltlose Lebensbejahung, die aus dem Werk spricht, mag darum erstaunen, doch erklärt sie sich aus Messiaens Glaubensfestigkeit und vermutlich auch aus der Tatsache, dass sich für ihn neue künstlerische Perspektiven abzeichneten. Im Frühjahr 1941 war er aus dem deutschen Kriegsgefangenenlager in Görlitz zurückgekehrt, wo sein „Quatuor pour la fin du temps“ entstanden war. Im besetzten Paris konnte er seine Tätigkeit als Organist wieder aufnehmen und dank der Unterstützung seines ehemaligen Lehrers Marcel Dupré eine Stelle als Klavierlehrer am Conservatoire antreten. Zu seinen ersten Schülern gehörte Yvonne Loriod, die zur wichtigsten Interpretin seiner Werke und zwanzig Jahre später auch zu seiner zweiten Ehefrau wurde.
„Visions de l’Amen“ war das erste Auftragswerk, das Messiaen nach seiner Rückkehr komponierte. Der Auftrag kam von Denise Tual, der Veranstalterin der „Concerts de la Pléiade“. Dass der zu religiösen Höhenflügen fähige Komponist keineswegs realitätsfremd war, zeigt sich in einem Brief, den er ihr vier Wochen vor dem Konzert schickte:
„Beiliegend finden Sie eine Liste mit 50 Namen und Adressen. Diese Personen würde ich gerne zum Concert de la Pléiade am 10. Mai einladen. […] Außerdem möchte ich Sie noch daran erinnern, dass die beiden Pianisten (Mlle Loriod und ich) sowie die beiden Umblätterer (es müssen zwei sein) Eintrittskarten benötigen, um hineinzukommen. Ich erwähne dies, da bei Ihnen die Einlasskontrolle drakonisch ist.“
Die Konzerte fanden in privatem Rahmen und unter strengen Sicherheitsmaßnahmen in einer großen Kunstgalerie statt – Paris stand unter deutscher Besetzung und man wollte keine Spitzel im Raum haben.
Die Uraufführung am 10. Mai 1943 wurde zu einem kulturellen und gesellschaftlichen Ereignis. Unter den Gästen befanden sich der Musikkritiker Roland-Manuel, die Schriftsteller Paul Valéry, François Mauriac und Jean Cocteau, der Modeschöpfer Christian Dior sowie die Komponisten Francis Poulenc und Artur Honegger. Die prominente Schriftstellerin Colette, Librettistin von Ravels Oper „L’enfant et les sortilèges“ und inzwischen siebzig, kam per Fahrrad und in Sportkleidung, wie das Magazin Marie-Claire hinterher berichtete. Honegger schrieb für die Kulturzeitschrift Comœdia eine Kritik, in der er sich tief beeindruckt zeigte. Die Reduktion auf die Farben des Klaviers fand er keineswegs nachteilig:
„Was macht das schon angesichts der poetischen Kraft, des anhaltend hohen Niveaus des musikalischen Diskurses und der Qualität der musikalischen Fantasie, die so eindrucksvoll unter Beweis gestellt werden? Die Regeln, die der Komponist erfunden und sich selbst mit größter Disziplin auferlegt hat, verleihen dem gesamten Werk einen erhabenen Stil, der in keiner Weise trocken wirkt.“
Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über
Und dann ist da noch der damals von der Kritik hartnäckig diskutierte „cas Messiaen“, der Fall Messiaen. Man respektierte den religiösen Gehalt von Messiaens Musik oder hörte zumindest freundlich darüber hinweg, doch man tat sich schwer mit seiner Gewohnheit, die nicht immer leicht nachvollziehbaren theologischen Überlegungen, die er beim Komponieren im Hinterkopf hatte, vor den Werken oder sogar zwischen den Sätzen dem Publikum vorlesen zu lassen. Ein Hang zur Verkündigung, der im laizistischen Frankreich nicht immer gut ankam. Im Gegensatz zu anderen Rezensenten war Honegger in diesem Punkt zurückhaltend. Seinen Andeutungen kann man zwar entnehmen, dass er von der Notwendigkeit dieser Lesungen auch nicht überzeugt war. Doch er tolerierte Messiaens pfingstliche Anwandlungen – er betrachtete sie als authentisch und wusste, dass sie von seiner Person und seinem Werk nicht zu trennen waren. Womit er zweifellos Recht hatte.
Printversion: Programmheft der Salzburger Festspiele zum Konzert mit Markus Hinterhäuser und Igor Levit am 24. Juli 2017.