Vokalwerke von George Benjamin sind in seinem Werkverzeichnis bis 2012 eher schwach vertreten. Er ist ein Komponist mit einem feinen Gespür für eine ausgewogene Klangdramaturgie und die richtigen Farbmischungen. Instrumentale Werke stehen daher lange im Zentrum seines Schaffens. Bei der Frage nach den Gründen für dieses Ungleichgewicht kann man schnell ins Spekulieren geraten. Spiegelt sich darin bloß eine individuelle künstlerische Disposition, oder ist es charakteristisch für die englische Musik überhaupt? Es heißt ja, auf den britischen Inseln gälten andere Maßstäbe als auf dem Kontinent, und das nicht nur in der Politik.
In England ticken auch die musikalischen Uhren anders
Indizien für eine anders verlaufende musikalische Entwicklung jenseits des Kanals gibt es genügend. Zum Beispiel gab es in England nie den tiefen Graben zwischen neuer Musik und Publikum, wie er zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Österreich aufbrach. In dieser englischen Tradition sind auch die Vokalwerke von George Benjamin zu sehen. Und wenn sich radikale Tendenzen überhaupt artikulierten, wie etwa in der Gruppe um Cornelius Cardew, dann wurden sie nicht wohlwollend in ein speziell eingerichtetes Subventionsgetto aufgenommen, sondern gesellschaftlich hoffnungslos marginalisiert.
Doch abgesehen davon: Singt man auf den britischen Inseln anders als auf dem Kontinent? Ein Vergleich etwa mit Italien zeigt die Unterschiede. Sie liegen nicht nur in der phonetischen Beschaffenheit der Sprache, sondern betreffen auch das intervallische und damit das Raumbewusstsein. Während die mediterrane Melodik die kleinen, sogar mikrotonalen Intervalle bevorzugt und zur Monodie tendiert, ist für die traditionellen Musikkulturen der britischen Inseln eine mehr raumgreifende, oft pentatonisch ausgerichtete Melodiebildung charakteristisch, und der Gemeinschaftsgesang ist weit verbreitet.
In der Volksmusik findet man zahllose Beispiele dafür, angefangen von den Seemannsliedern mit ihrer kantigen Melodik bis zum heute noch überaus populären Gemeinschaftslied Auld Laing Syne über den Text von Robert Burns. Der Melodienbau prägt auch das harmonische Bewusstsein, und das hat wiederum Rückwirkungen auf das musikräumliche Empfinden, denn Harmonik ist nicht anderes als eine hoch entwickelte Art der Tonraumstrukturierung.
Die Klangsinnlichkeit des Sommerkanons
In der Musikgeschichte gibt es in dieser Hinsicht ein berühmtes Beispiel, den sogenannten Sommerkanon aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, überliefert in einem Codex aus der Abtei von Reading. Die Melodik dieses sechsstimmigen Kanons ist integriert in eine Gesamtstruktur in Fauxbourdon-Manier. Eine polyphone Konstruktion verbindet sich also nicht nur mit einer klaren harmonischen Idee, sondern auch mit der Anmutung des Einfachen, Sinnfälligen, und dies zu einer Zeit, da auf dem Kontinent von Terzen und Sexten als konsonanten Intervallen noch lange nicht die Rede war.
Die sinnenfrohe Klanglichkeit, die der Sommerkanon der klösterlich strengen Linearität der bisherigen mehrstimmigen Musik entgegensetzte, wurde damals vermutlich ebenso als Aufstand gegen die gelehrte Musiktradition empfunden wie siebenhundert Jahre später die Songs der Beatles. Eine Fortsetzung findet dieses klangorientierte Denken dann unter anderem in den Vokalsätzen von John Dunstable (ca. 1390-1453), der wiederum Dufay und Binchois beeinflusste.
Ob diese Eigenschaften „typisch englisch“ sind, sei dahingestellt, doch auffallend ist, dass sie zuerst in England nachweisbar sind und von dort auf die kontinentale Musik abgefärbt haben. Die Integration der melodischen Verläufe in einen fließenden kompositorischen Gesamtzusammenhang, in dem eine durch die Harmonik gestützte Klanglichkeit eine maßgebliche Rolle spielt, ist, wie noch zu zeigen ist, auch ein Merkmal der Musik von George Benjamin; in der englischen Sinfonik an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, bei Komponisten wie Frederick Delius oder Edward Elgar, gibt es übrigens vergleichbare Tendenzen. Das soll aber nicht heißen, dass Benjamin nun mittelalterliche Traditionen fortschreibt, sondern es soll nur auf gewisse strukturelle Ähnlichkeiten aufmerksam gemacht werden.
England holte sich die Komponisten vom Kontinent
In der Neuzeit verliefen die Einflüsse in umgekehrter Richtung. Die weltweit führende Handelsnation England brachte wenige Komponisten von Rang hervor, leistete sich aber den Luxus, das Beste von außen ins Land zu holen. Die Komponisten, die vom Festland auf die Insel kamen, wurden mitsamt ihrer Musik begeistert adoptiert. Bis heute gilt Händel, der Großmeister der Opera seria und des Oratoriums, als unumstrittener englischer Musikfürst und legitimer Nachfolger von Henry Purcell, dem „Orpheus Britannicus“. Die Chorsätze aus seinem Messiah gehören bis heute zum Grundrepertoire der englischen Chorvereinigungen.
Auf Händel folgten Komponisten wie Johann Christian Bach und, wenn auch nur besuchsweise, Haydn und Mendelssohn, die ebenso enthusiastisch aufgenommen wurden. Nicht zu vergessen, wenn man von der vokalen Musikkultur im damaligen England spricht, sind die zahlreichen Oden und Festkantaten zu Ehren der Heiligen Cäcilie, der Schirmherrin der Musik und des Gesangs. Im späten 17. Jahrhundert begründeten die Gentlemen der Musical Society in London die Tradition, alljährlich am Ehrentag der Cäcilia, am 22. November, glänzende Feste zu veranstalten. Sie bestanden aus drei Teilen: Gottesdienst, Konzert und Bankett. Purcell war einer der ersten, der für diese Gelegenheit eine Cäcilien-Ode schrieb, Händel und viele andere folgten ihm.
Soviel zum Stellenwert des Gesangs im historischen England. Britannia non cantat? Die Frage kann man getrost vergessen.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich in England wie auch auf dem Kontinent die Gesangsästhetik gewandelt. An die Stelle eines klassisch orientierten Schönheitsideals, dem noch Benjamin Britten mehr oder weniger stark verpflichtet war, trat bei den Jüngeren ein mehr instrumentales Verständnis der Singstimme, das auf eine Erweiterung der Artikulationsmöglichkeiten zielte und neue technische Anforderungen an die Stimme stellte.
Vokale Experimente bis hin zur Geräuschproduktion, wie sie seit den 1960er Jahren vor allem in Deutschland betrieben wurden, scheinen aber in England nie richtig Fuß gefasst zu haben, und wenn, dann nur in Nischen oder mit Verspätung. Zum Schaden der Musik war das nicht, denn man tappte nicht in die Falle des Materialfetischismus und konzentrierte sich auf eine ästhetisch begründete Anwendung der neuen Techniken.
Die Vokalwerke von George Benjamin bis 2012
Auch Benjamin hat sich bei seinen nicht sehr zahlreichen Werken mit Beteiligung der Singstimme vermutlich von solchen Maximen leiten lassen. Die Vokalwerke von George Benjamin, die bis zum Erscheinen seiner ersten Oper Written on Skin im Jahr 2012 erstanden sind, sind nicht sehr zahlreich. Auf einige davon soll nun näher eingegangen werden: A Mind of Winter (1981), Jubilation (1985), Upon Silence (1990), Sometime Voices (1996) und Into the Little Hill (2006).
Die Reihe der Vokalwerke von George Benjamin setzt laut Werksverzeichnis mit dem Orchesterlied A Mind of Winter ein, komponiert für Sopran und Kammerorchester (nur mit doppelten Bläsern und kleiner Streicherbesetzung). Im Entstehungsjahr 1981 stand Benjamin noch stark unter dem Einfluss der französischen Musik, die er im Studium bei Olivier Messiaen aus erster Hand kennengelernt hatte; er war 1976 mit sechzehn Jahren dessen jüngster und letzter Schüler geworden.
A Mind of Winter: Der Klang der Winterlandschaft
In A Mind of Winter wird die Schilderung der Winterlandschaft im Gedicht von Wallace Stevens auf impressionistische Weise in einen Klang umgesetzt, der die glitzernde Kälte einer Schneelandschaft in ausgesuchten Farben malt. Die Singstimme ist quasi instrumental behandelt und vollkommen in den Orchestersatz integriert. Ihre wunderbar weit ausschwingende Linie ist das Resultat eines kompositorischen Denkens, das alle Parameter gleichgewichtig miteinander zu verbinden trachtet – nicht auf abstrakte Weise durch Prädisposition des Materials, wie es einst der Serialismus praktizierte, sondern auf der Ebene der Klangerscheinung: als minutiös ausgearbeitete, durch das Gehör kontrollierte Struktur.
Die melodische Erfindung sei für ihn essentiell, sagt Benjamin. Doch er verabsolutiert sie nie. In A Mind of Winter, wo sich die Melodielinie bruchlos in die Gesamtkonzeption des Orchestersatzes einfügt, steht der leidenschaftliche Klangalchemist Benjamin, dessen Hauptinstrument das Orchester ist, in produktivem Wettstreit mit dem Melodiker Benjamin. Das Werk ist ein schönes Beispiel von kompositorischem comprehensive thinking, um hier den Ausdruck von Buckminster Fuller wieder einmal zu benutzen.
Zwei Ausschnitte aus dem knapp zehnminütigen Werk verdienen aufgrund ihrer raffinierten Synthese von Vokal- und Instrumentalpart besondere Aufmerksamkeit. Zunächst die Passage, wo der Text vom eisbedeckten Wachholder und den in der Januarsonne glitzernden Bäumen spricht. Das stimmungsvolle Naturbild findet eine perfekte Entsprechung in der Musik, und die Beschreibung des „distant glitter of the January sun“ inspirierte Benjamin zu einem zauberhaften Orchesterkommentar.
Am Schluss dieser gesungenen Phrase findet das Orchester unerwartet zu einem H-Dur-Klang in Sextakkordlage mit der Terz dis’ im hohem Fagott; die darüberliegende leere Quinte h’-fis’’ wird gespielt von zwei Klarinetten und eine Oktave höher von zwei Piccoloflöten verdoppelt; später treten noch Oboe und Englischhorn dazu. Angerissen und umspielt wird dieser Klang von zerstäubenden Figuren der ebenfalls hohen Streicher, einmal con sordino und dann sul ponticello. In dieses glitzernde Klangfeld sind gleichsam als „konkrete“ Ereignisse die Signale zweier Hörner hineingesetzt. Wenn nach diesem instrumentalen Kommentar die Singstimme wieder aus dem orchestralen Klang heraustritt, erscheint sie wie eine besonders kostbare Orchesterfarbe. Bei diesem subtilen Spiel der Farben und Harmonien versteht man, dass eines der großen Vorbilder von Benjamin damals Claude Debussy war. Und man darf vermuten, dass er es auch heute noch ist.
Der zweite Ausschnitt betrifft einen inhaltlichen Aspekt mit synästhetischer Bedeutung. Während in der Schilderung der Winterlandschaft lange nur das Auge eine Rolle spielt, tritt gegen Schluss das lyrische Ich nun als listener in Erscheinung – aus dem sehenden wird ein hörendes Subjekt. Dieser Wechsel der Wahrnehmungsform wird von Benjamin mit großer Emphase thematisiert. Das erste und einzige Mal ist für das Orchester hier ein dreifaches Forte vorgegeben. Die Singstimme, die mit der Trompete duettiert, bewegt sich zwischen zwei Polen: zwischen der syllabischen Diktion nahe am englischen Sprachduktus einerseits und dem Gesang als wiederum rein instrumentaler Farbe mit sehr lange gehaltenen Tönen andererseits. Der letzte Ton der Singstimme taucht im dreifachen Piano ins Orchester ein und verschwindet schließlich in ihm. Die winterliche Landschaftsschilderung wandelt sich zum Schluss in eine existenzielle Reflexion, wenn es heißt, dass der Hörende in der gefrorenen Schneelandschaft nichts wahrnimmt als das Nichts, das als Einziges real vorhanden ist.
Jubilation und eine Erinnerung an Debussys Sirenen
Das Modell der in A Mind of Winter praktizierten instrumental-vokalen Synthese findet sich in reinster Form vier Jahre später in Jubilation. Die Besetzung dieser 1985 entstandenen Komposition umfasst neben einem Schulorchester mehrere Gruppen von Kindern, die Blockflöte und Schlagzeug spielen und singen. Diese Gruppen sind relativ einfach strukturiert und besitzen auch einige improvisatorische Elemente. Der Chor singt leicht singbare Tonfolgen mit einem Text, der nur aus den Tonnamen besteht wie beim Solfège: mi-fa-sol-re etc. Die Vokalstimmen werden damit nicht als sprachliche Bedeutungsträger, sondern als Instrumentalfarbe eingesetzt.
Auch hier schimmert das Vorbild Debussy wieder durch, allerdings mit dem Unterschied, dass in dessen Sirènes, dem dritten Teil der Nocturnes, die Vokalisen der Frauenstimmen vollkommen textlos notiert sind. Durch die Unschärfen der Einsätze und die Verwendung von obertonreichen Schlaginstrumenten entsteht in Jubilation eine helle, gleißende Klanglichkeit, deren schillernde Farben noch durch Synthesizer und Steeldrums verstärkt werden. Mit den begrenzten Mitteln eines Schulorchesters erzeugt Benjamin komplexe Spektralklänge, die auch die Idee des Jubilus sinnfällig zur Geltung bringen.
Upon Silence: Mit der Leichtigkeit des Wasserläufers
Sehr lange, gleichsam instrumentale Töne treten auch wieder in der Singstimme von Upon Silence nach einem Gedicht von William Butler Yeats in Erscheinung. Das Stück entstand 1990 zunächst in einer Version für Mezzosopran und fünfstimmiges Gambenconsort; später arbeitete es Benjamin für moderne Streicher um. Auch in dieser Komposition geht es, wie der Titel verrät, um eine Art Nichts, nämlich die Stille als die Negation von Klang, und damit um die Darstellung von Grenzerfahrungen. Die Widmung an Michael Vyner, den zwei Jahre zuvor verstorbenen Manager der London Sinfonietta, unterstreicht diesen Aspekt. Wenn am Schluss die Sopranstimme sich in einer langen Vokalise in die Höhe windet und im Moment größter Spannung abbricht, könnte das durchaus als Klangsymbol für die Endlichkeit des Menschenlebens verstanden werden.
Der Textvorlage legt aber auch eine andere Deutung dieser sich emporschwingenden Linie nahe. Im Gedicht von Yeats ist von der Genialität des menschlichen Denkens die Rede, das in der Lage sei, sich schwerelos über alle materiellen Hindernisse hinwegzusetzen. Der Refrain zu den drei kurzen Strophen lautet jedes Mal: „Wie eine langbeinige Fliege auf dem Wasser bewegt sich sein Geist über der Stille.“
Welcher Deutung man auch den Vorzug gibt – beide weisen über die banale Alltagswirklichkeit hinaus, und die Vorstellung, diese anderen Welten zu erforschen, scheint den Komponisten offensichtlich zu faszinieren. Vor hundert Jahren wurde dafür auch schon einmal die Metapher „Luft von anderen Planeten“ geprägt. Das Vehikel, um zu jenen unerreichbaren Räumen zu gelangen, ist für George Benjamin der Vokalklang, und er benutzt dazu die ganz große Übersetzung: die bis zum Zerreißen gedehnte, im Wortsinn atemraubende Melodielinie. Das überhitzte Espressivo vermeidet er dabei ebenso wie die wortselige Verkündigungsattitüde. Er bevorzugt den Tonfall einer möglichst vibratolosen, schlackenreinen Stimme, hinter deren Körperlosigkeit ein objektiviertes Schönheitsideal zum Vorschein kommt.
Dieser Tonfall ist in der heutigen Musik weitherum ohne Beispiel und vermutlich auch in England durchaus ungewöhnlich. Er überzeugt umso mehr, als es sich nicht einfach um das Satzmuster „schöne Stimme mit Begleitung“ handelt. Die Vokallinie als Träger eines entpersönlichten, im Fall von A Mind of Winter sogar leicht seraphischen Ausdrucks, ist stets organisch mit der instrumentalen Umgebung verwoben. In Upon Silence geschieht das sogar ganz gezielt durch Vermischung in der gleiche Lage: Der in tiefer Lage geführte Mezzosopran wird zur sechsten Stimme im kontrapunktischen Geflecht des Gambenconsorts.
Ob diese Einheit von Harmonik, Klangfarbe und vokaler Linie nun mehr in einer englischen oder französischen Traditionslinie steht, bleibe dahingestellt. Erinnert sei aber nochmals an den siebenhundertfünfzig Jahre alten Sommerkanon, in dem es dieses Phänomen in Rohform auch schon gibt.
Sometime Voices: Shakespeare und die Natur des Caliban
Ganz anders als die drei genannten Stücke aus den Jahren 1981 bis 1990 präsentiert sich dagegen die Komposition Sometime Voices für Bariton, Chor und Orchester von 1996. Dem Stück liegen die Zeilen aus Sturm von Shakespeare zugrunde, in denen Caliban die imaginäre Musik beschreibt, die ihm auf seiner Insel im Kopf saust: Tausend Instrumente, deren Klänge das Ohr umschwirren und pieksen, und manchmal auch Stimmen – „sometime voices“. Über den dunkel-unheimlichen Klangwogen des Orchesters bohrt sich die Stimme Calibans wie ein Torpedo durch den Klangraum. Der Bariton steht absolut im Vordergrund; laut Partituranweisung soll er das Orchester in jedem Moment dominieren.
Eine Gemeinsamkeit mit den älteren, lyrisch ausgerichteten Stücken ergibt sich trotzdem: Der Vokalpart ist wiederum stark melismatisch gestaltet und bildet weite Bögen, auch wenn er hier nun eben nicht in den Instrumentalklang eingebettet ist, sondern über ihn herrscht. Das klingt auf erschreckende Weise ungebärdig und ist von starker körperlicher Präsenz. Die Solostimme ist die mächtige Energiequelle, die das kurze Werk mit Spannung auflädt; der Charakter des naturhaften Caliban wird dadurch perfekt erfasst. Als vermittelnde Schicht zwischen Orchesterklang und Sologesang steht einzig der sehr diskret behandelte Chorsatz, und erst gegen Schluss springt das Energiepotenzial der Stimme auch nachhaltig auf das Orchester über.
In den gleißenden Obertönen werden an dieser Stelle, ähnlich wie in der Eislandschaft von A Mind of Winter, die Erfahrungen Benjamins mit dem französischen Spektralismus hörbar. Insgesamt herrscht in Sometime Voices eine neue Härte des Ausdrucks vor, verbunden mit einer konstruktiven Linearität und einer Harmonik, die weniger auf Verschmelzung angelegt ist als bei den früheren Stücken.
Into the Little Hill: Der Reichtum in der Reduktion
In der 2006 in Paris uraufgeführten Kammeroper Into the Little Hill ist der Gesang, dem realistischen Charakter des Werks, stark von der Sprache bestimmt, die Deklamation meist syllabisch. Auffallend ist der satztechnische Einfallsreichtum, den Benjamin bei der Charakterisierung der Figuren walten lässt. Er ermöglicht es ihm zum Beispiel auch, durch die streng homophone Führung von nur zwei Einzelstimmen einen Chor zu simulieren und dadurch den Eindruck von Massenszenen zu erwecken. Eine ähnliche Imaginationskraft hat vor ihm auch schon die schottische Komponistin Judith Weir in ihren Mikro-Opern an den Tag gelegt, wo eine einzige Sängerin bis zu acht Rollen spielt.
Das reduktive Prinzip von Into the Little Hill begünstigt die Durchhörbarkeit, und man erkennt einen ausgefeilten, stark linear konzipierten Satz, der in seiner Konstruktivität einen anderen Bezugspunkt von George Benjamins Metier in Erinnerung ruft: das polyphone Denken der Wiener Schule, das er im Unterricht bei Alexander Goehr kennengelernt hatte. Mit Reihenzwang und Abzählen von Tönen hat seine Musik allerdings nichts zu tun. Der Lockerheit, mit der er lineare und vertikale Dimension, Instrumental- und Vokalklang in ein schwereloses Gleichgewicht bringt, hört man auch nicht mehr an, dass sie das Resultat einer detailbesessenen,akribischen Arbeit ist. Was sich dem Hörer primär mitteilt, ist die Beweglichkeit eines Denkens, das leicht wie der Wasserläufer im Gedicht von Yeats stets unterwegs nach neuen Ufern ist. Hinter der Grenzlinie der momentanen Erfahrung, die er schon in seinem frühen Orchesterstück Ringed by the Flat Horizon abgetastet hat, warten auf George Benjamin noch viele unerforschte Landschaften.
Quellenhinweis: Dieser Aufsatz entspricht mit geringfügigen Änderungen dem Text des Vortrags Britannia non cantat? Hinweise zur Vokalität George Benjamins, gehalten beim Symposium Sometime Voices. Der Komponist George Benjamin am 18. September 2011 in der Alten Oper Frankfurt.
Sometime Voices. Die Vorträge des Benjamin-Symposiums 2011 (Verlag Schott)
Werkverzeichnis George Benjamin bei Faber&Faber
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