In der Geschichte der Wittener Tage für neue Kammermusik bedeutet das Jahr 2020 einen Einschnitt. Das Wochenende im April, an dem das Traditionsfestival gewöhnlich stattfindet, fiel mitten in die erste Phase der Corona-Pandemie, und damit stand fest, dass es mit in den Strudel des allgemeinen Lockdowns hineingerissen würde. Das war den Veranstaltern schon im März klar geworden. Doch anstatt bloß in den allgemeinen Klagechor über die Zerstörung der Kultur einzustimmen, besannen sie sich auf das, was die neue Musik immer ausgezeichnet hat: das Experiment und die Suche nach neuen Wegen mit ungewissem Ausgang.
Innerhalb weniger Wochen wurde das Festival kurzerhand zum Medienfestival umadressiert. Das Programm (PDF) der auf fünf Veranstaltungsorte verteilten Konzerte wurde mediengerecht zerlegt und an den Festivaltagen in drei Vierstundenterminen über Radio und Internet gesendet, und aus den Uraufführungen wurden Ursendungen. Möglich war das nur, weil die Wittener Tage für neue Kammermusik organisatorisch und finanziell maßgeblich vom WDR unterstützt und vom dortigen Rundfunkredakteur Harry Vogt künstlerisch geleitet werden.
Live-Ereignis und Medienereignis
Es ist eine Binsenweisheit, dass sich ein Live-Ereignis nicht verlustfrei im virtuellen Raum abbilden lässt, aber im Bewusstsein, dass es zweierlei Formate sind, lässt es sich in ein gleichwertiges Medienereignis transformieren. Dass das nun so gut gelang, ist in erster Linie den über die Kontinente verstreuten Interpreten zu verdanken, die zu Hause und in Aufnahmestudios die Stücke mit enormer technischer Wendigkeit und in Live-Schaltungen vorproduzierten. Den Clicktrack im Ohr, das Videobild des entfernten Mitspielers vor Augen oder manchmal auch nur mittels Playback, erwiesen sie sich als die Erfinderischsten im großen Team der Festivalmacher. Die Komponisten konnten in Vorgesprächen und über Skype die Einstudierungen überwachen.
Viele Aufführungen ließen das Saalerlebnis schlicht vergessen, so etwa die unter dem Motto „monochrom“ einstudierten Werke für acht Trompeten, die von Marco Blaauw nun im Playbackverfahren realisiert wurden, oder die über tausende von Kilometern hinweg ins Leben gerufene Komposition von Elena Rykova für die Gitarristen des Ufa Sextetts mit Elektronik. In der medialen Sphäre offenbarten die Instrumente völlig neue Klangqualitäten.
Vier Musiker in drei Ländern
Faszinierend zu hören und zu beobachten war das etwa bei der Komposition „L‘atelier rouge d’après Matisse“ von Hugues Dufourt. Mit den
Erfahrungen des Spektralismus im Hintergrund und unter Einbezug von Klangerzeugern aus der Horrorfilmproduktion – sie sind seit längerem ein Gegenstand seiner Klangforschung – erweiterte Dufourt das Klangfarbenspektrum bis in die Ausdrucksbereiche des Unheimlichen und Bedrohlichen. Die Simultanaktionen des Ensemble Nikel – vier Musiker in Deutschland, der Schweiz und Israel – waren auf einem viergeteilten Bildschirm zu verfolgen.
Diese neue Art von multimedialer Musikwahrnehmung brachte der Akkordeonist Teodoro Anzellotti auf den Punkt: „So kriegt man manchmal mehr mit als vor Ort.“
Ein Schwerpunkt des Festivals war dem spanischen Komponisten Alberto Posadas gewidmet. Die Sorgfalt, die er auf seine Instrumentalwerke verwendet, und der hohe Reflexionsgrad seiner Arbeit sind bemerkenswert. Seine Vorliebe zu längeren Zyklen kam aber in der medialen Vermittlung nicht richtig zur Geltung. Bei allem Respekt vor den differenziert und sensibel gestalteten Klängen: Bei einer abendlangen Sendestrecke stößt das interessierte Hören einer fast einstündigen Werkfolge, zumal wenn sich der Gesamthabitus sich in einem eher schmalen Ausdruckskorridor bewegt, an seine Grenzen. Mehr noch als der Lautsprecher diktiert der Bildschirm kürzere Wahrnehmungsintervalle.
Die Klanginstallation kommt ins Wohnzimmer
Das „Theater des Nachhalls“ von Brigitta Muntendorf war dazu besser geeignet. Mit dem GrauSchumacher Pianoduo als Performer war es eine technisch hervorragend gemachte Medienkomposition, die vermutlich am Bildschirm besser wirkt als im realen Raum.
Paradoxerweise kamen auch von den Klanginstallationen, die sich an das Sehen und das Hören richten und vor allem räumlich begangen werden sollten, recht viel über das Medium ins Wohnzimmer. „Kupfer Himmel“ von Christina Kubisch, dessen Klänge nur über Induktionskopfhörer wahrnehmbar sind, konnte dank einer vorgängigen Teilrealisation etwas von der Faszination dieser Versuchsanordnung mitteilen. | Gespräch mit Christina Kubisch über „Kupfer Himmel“
Für die anschauliche Vermittlung waren die sich abwechselnden Moderatorinnen und Moderatoren zuständig. Obwohl auch diese Schicht vorproduziert war, wirkte die Mischung von Werken, Künstlergesprächen, Videodokumentationen und lockeren Ansagen durchaus lebendig und zeugte von Einfallsreichtum und persönlichem Engagement der Macher. Wendungen wie „Nun bin ich mit dem Komponisten XY in Madrid verbunden“, die eine spontane Liveschaltung suggerieren, erweisen sich allerdings als problematisch, wenn man den sauber geschnittenen Interviews anhört, dass sie vorab aufgenommen und bearbeitet wurden.
Der Druck der Verhältnisse erzeugt Neues
Der organisatorische Kraftakt an diesem Wochenende hat sich gelohnt, denn bei allen Verlusten – mehrere größer besetzte Werke konnten wegen mangelnder physischen Präsenz nicht realisiert werden – gelang den Verantwortlichen der Wittener Tage für neue Kammermusik unter dem Druck der Verhältnisse etwas, das bisher meist nur in den Wunschträumen von Nerds existierte: Ein Festival im digitalen Raum.
Weil die ausfallende Live-Attraktion durch eine attraktive Präsentation im Netz und im linearen Rundfunk erfolgreich ersetzt wurde, könnte dieses mediale Experiment – man darf ruhig von einem Medienereignis sprechen – eine Blaupause für weitere Unternehmungen dieser Art abgeben. Dies zum Vorteil einer immer mehr in die digitalen Räume hinein sich entwickelnden zeitgenössischen Musik und als Fingerzeig für die Medienanstalten, wie die neuen technischen Mittel über die Abbildung von Live-Veranstaltungen im Maßstab eins zu eins hinaus auf kreative Weise zu nutzen wären. Und auch nicht nur für fantasielose Routineschaltungen bei inszenierten Politdebatten und Massenunterhaltungen.
Dass dieser erstmalige Versuch von einer findigen Redaktion innerhalb eines Medienriesen durchgeführt wurde, ist ein kleiner Lichtblick und macht deutlich, wie viel ungenutztes Potenzial in den Anstalten noch herumliegt. Ob er fortgesetzt oder anderswo nachgeahmt wird, wenn der Coronaspuk einmal zu Ende ist, muss sich noch zeigen.
Print (Zweitversion): Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28.4.2020.