In der Dezember-Ausgabe der NMZ hat der engagierte Kulturpolitiker Olaf Zimmermann einmal mehr gewarnt vor dem geplanten Freihandelsabkommens TTIP, das zwischen EU und USA nun schon zur Hälfte durchverhandelt ist, aus Sicht der Öffentlichkeit bisher aber mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet hat. Ich teile diese Skepsis, und vermutlich war ich sogar der erste, der in der NMZ 2013 auf diese Gefahren hingewiesen hat. Doch die grundsätzlich ablehnende Haltung, die heute teilweise kampagnenartig verbreitet wird und auch in der NMZ Befürworter findet, kann ich nicht teilen. Deshalb nutze ich gern die Möglichkeit, die die diskussionsfreudige NMZ ihren Autoren bietet, zur Gegenrede.
Bei TTIP geht es bekanntlich um mehr als um den Austausch physischer Güter. Besonders heikel ist der ganze kulturindustrielle Komplex inklusive Internet. Die weltpolitischen Vereinbarungen werden bis in den musikalischen Alltag hinunter spürbar sein und ihre Spuren sowohl im sozialen Bereich als auch im kulturellen Selbstverständnis hinterlassen. Darin bin ich mit Olaf Zimmermann einig. Was mir aber nicht einleuchten will, ist die Angst, die sich ganz allgemein an das Kürzel TTIP heftet und die, wie mir scheint, auch in seinem Artikel leise anklingt. Sie verleiht, meist noch gepaart mit Empörung, jeder Kritik am geplanten Abkommen einen emotionalen Spin, der eine nüchterne Abwägung der Fakten verunmöglicht.
Chlorhühnchen und Hollywood, Genfood und Google sind die Kampfbegriffe, mit denen heute schlagkräftige, gut vernetzte Gruppen die Volksseele in Erregung versetzen. Das hat bisher umso besser geklappt, als die Brüsseler Kommission, kein besonders demokratieaffines Gremium, nach altbewährter Manier lange versucht hat, alles im Rücken der Öffentlichkeit abzuwickeln. Doch da die Menschen, nicht nur in Deutschland, zunehmend allergisch auf solche Kungeleien reagieren, war die EU-Kommission nun gezwungen, die Akten wenigstens in Teilen zu veröffentlichen.
Der weitere Verlauf der Verhandlungen wird ein Lackmustest für die Bereitschaft der Kommission zur Transparenz und damit zu demokratischen Spielregeln sein. Der Druck muss deshalb aufrecht erhalten werden. Aber nicht, um das historische Projekt zu Fall zu bringen, sondern um zu einem auch für die Europa befriedigenden Abschluss zu gelangen. Anzeichen dafür gibt es. Und vor allem man weiß jetzt, wo es aufzupassen gilt, in rein wirtschaftlichen Handelsfragen wie auch im sensiblen Bereich der Kultur.
Die antiamerikanischen Emotionen, die heute teilweise mit Grund kursieren, sollten die Vernunft nicht überlagern. Denn diese gebietet, das Wagnis engerer kultureller und wirtschaftlicher Beziehungen einzugehen. In der Neuordnung der globalen Machtverhältnisse muss sich Europa dorthin orientieren, wo es gemeinsame Wurzeln und Interessen mit anderen gibt. Und das sind nun einmal die USA. Sie sind ein Produkt europäischer Emigranten.
Gemeinsamkeiten gibt es heute gerade in der Alltagskultur eine Menge. Woody Allen und Woodstock, Jazz und Broadway, Jeans und Cola sind für uns so selbstverständlich geworden wie Bier und Weißwurst. Nicht zu vergessen John Cage. Umgekehrt hat das europäische Denken auf das amerikanische intellektuelle Leben einen starken Einfluss. Die Kultur von Old Europe ist für viele nach wie vor eine Art geistiger Sehnsuchtsort.
Was die Wirtschaft angeht: Der amerikanische Kapitalismus wurde von protestantischen Emigranten aus Europa geschaffen, und die Probleme sind heute auf beiden Seiten des Ozeans ungefähr die gleichen. Der Kapitalismus wird bleiben, muss aber reformiert werden. Autoritäre Herrschaftsformen vertragen sich schlecht mit der Digitalisierung, die das Individuum grundsätzlich in Freiheit setzt – wenn es das denn will.
Die enge Verbindung Europa-USA, im Guten wie im Schlechten, ist eine historische Tatsache, und die Europäer können sich nicht mit selbstgerechten moralischen Vorhaltungen davonstehlen. Die USA sind Partner und nicht Gegner. Jede Seite weiß, wie die andere tickt. Wenn Europa geschickt verhandelt, wird es an der kompetitiven Herausforderung wachsen und mit diesem starken Partner eine starke Zukunft haben. Ein eurasischer Wirtschaftsraum von Portugal bis Wladiwostok ist illusorisch. Er wäre politisch extrem unstabil, machte enge Bündnisse mit korrupten Despotien nötig und würde vor allem auf Öl und Gas, den physischen Ressourcen des 20. Jahrhunderts, basieren. Die Ressourcen des 21. Jahrhunderts sind die menschlichen Gehirnströme und ihre Verlängerung in den Nervenbahnen der digital angetriebenen Wirtschaft. Sie sind nicht mehr an ein Territorium gebunden. Was es braucht, sind genügend Nervenzentren, und die wären zu haben: vom Silikon Valley über entsprechende Neugründungen in Europa bis zu CERN und ESA.
Die Idee vom gemütlich sich drehenden Windrad auf der grünen Wiese und der autochthonen nationalen Wirtschaft ist sympathisch, aber weltfremd. Mit der Angst vor globaler Interdependenz wird eine hochentwickelte Gesellschaft wie die unsere nicht überlebensfähig sein. „Was anders ist, das lerne nun auch“, sagt im „Siegfried“ Wotan zu Alberich, der das neue Paradigma nicht erkennen kann und deshalb zum Verlierer wird. Auch das überforderte Individuum des frühen 21. Jahrhunderts muss noch vieles lernen. Das schwierigste ist vielleicht, das Potenzial der neuen Ressourcen zu erkennen und für unser persönliches Lebensglück zu nutzen. In dieser Kunst stehen wir heute erst am Anfang. Der Weg dorthin wäre aber möglich.
Max Nyffeler
Februar 2015