Zum Spätwerk von Luigi Nono:
Eine andere Welt – aber welche?

Luigi Nono 1979 | Foto Fernando Pereira 1979, Wiki

Das rund zehnminütige Orchesterstück A Carlo Scarpa, architetto, ai suoi infiniti possibili (1984) ist ein Musterbeispiel für das Spätwerk von Luigi Nono. Der Titel („Für Carlo Scarpa, Architekt, für seine unendlichen Möglichkeiten“ oder auch: „für seine möglichen Unendlichkeiten“) stellt eine persönliche Huldigung dar. Nono erinnerte damit an den mit ihm befreundeten Venezianer Architekten Carlo Scarpa, der 1978 im fernen Japan gestorben war und dessen Architekturen sich durch eine besondere Sensibilität im Umgang mit dem Raum und den verwendeten Materialien auszeichnen.

In seinem Widmungsstück lässt Nono ebenfalls größte Klangsensibilität walten. In seinen Mitteln und seiner Rhetorik ist es einer radikalen Reduktion unterworfen: Das Material besteht im Grunde genommen nur aus den zwei Tönen C und Es, den Initialen des Namens Carlo Scarpa. Die Lautstärke bewegt sich fast nur in den sehr leisen Registern, das Orchester vermeidet das Tutti und ist in stets wechselnde Kleinformationen aufgespalten. Was man hört, ist aber das Gegenteil von Einfachheit. Die kleine Terz C-Es, das „Thema“ oder Grundmotiv des Stücks, wird auf raffinierteste Weise umgefärbt und umgedeutet. Durch feinste Klangfarbenwechsel und durch mikrotonale Abweichungen, die vom Viertel- bis zum Sechzehntelton reichen, wird das Intervall permanent verunklart und in seinen Konturen so subtil verwischt, dass die Musik eine Aura des Ungreifbaren erhält und in eine unbestimmte Ferne entrückt wird.

A Carlo Scarpa liefert ein anschauliches Beispiel für das, was Nono seit seinem Streichquartett von 1980 den „suono mobile“ genannt hat. Der Klang wird schwankend, er verliert seine eindeutige Gestalt und klare Kontur und ist nicht mehr auf einen festen Ort im Tonraum und im physikalischen Raum fixiert. Dem aufmerksamen Hören und damit dem Denken eröffnet das unablässig neue Perspektiven – die im Titel angesprochenen „infiniti possibili“, die unendlichen Möglichkeiten.

Ausgangspunkt Streichquartett

1980, vier Jahre vor dem Orchesterstück A Carlo Scarpa, brachte das LaSalle Quartett Nonos Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima zur Uraufführung. Die Mischfarben und Unschärfen der Klangkontur, die dem Orchesterstück sein unverwechselbares Gesicht verleihen, hat Nono schon hier systematisch erforscht und ausgearbeitet. In der kleinen Besetzung sind die Verfahren wie unter dem Vergrößerungsglas zu erkennen. Auffällig ist hier das, was man eine Polyphonie der Artikulationsweisen nennen könnte: Ein Akkord oder auch ein Unisono wird nicht einfach gleichmäßig gestrichen oder gezupft, sondern von jedem der vier Streicher anders artikuliert. Der Klang wird damit in seinem Inneren aufgespalten. Er wird zu einem multiperspektivischen Ereignis und legt sein verborgenes Potenzial frei: seine „infiniti possibili“, die unendlichen Möglichkeiten. Genau das hat Nono auch bei seinen Arbeiten im Freiburger Experimentalstudio angestrebt, wo er den Instrumental- und Vokalklang mit elektronischen Mitteln in seine Komponenten zerlegt hat.

Das Streichquartett wurde am 2. Juni 1980 in Bonn-Bad Godesberg durch das LaSalle Quartett uraufgeführt. Am Tag davor führte das Quartett zusammen mit Nono einen öffentlichen Workshop durch. Der Primgeiger des Quartetts, Walter Levin, erläuterte dabei am konkreten Beispiel die extrem verfeinerten Verfahren der Klangaufspaltung, die Nono hier angewandt hat. Ein historischer Reportagemitschnitt mit einigen Nebengeräuschen:

Walter Levin zum Quartett von Luigi Nono

Der Tritonus kommt gleich am Anfang, er ist das grundlegende Intervall des ganzen Stückes. Im ersten Takt zeigt sich, dass der Klang verdoppelt wird durch andere Instrumente, die dieselben Töne zur gleichen Zeit spielen, aber mit anderer Klangfarbe, so daß ständig eine Klangfarbenmischung erzielt wird. Auch dadurch, dass die Instrumente, die anders spielen, denselben Klang in anderer Dynamik spielen, so dass sich eine Mischung von Ton zu Ton verändert. Wir spielen mal den ersten Takt, und da kommt gleich zuerst ein Intervall, das fängt an mit einem Battuto in der zweiten Geige – so fängt das Stück an –, und dann werden dieselben Töne flautato in der Geige gehalten, also das ist die Sekunde. Da haben Sie sofort einen Klangfarbenwechsel, aber dasselbe Intervall.
(Klangbeispiel)
Als nächstes kommt eine Mischung von normalem Klang und arco ponticello in der Viola und der ersten Geige. Beide spielen das A; er spielt es flageolett, und ich spiele es normal. Die Mischung müsste so sein, dass man weder das eine noch das andere genau hört. Dabei soll das A der Viola lauter sein als das der ersten Geige, es dominiert also in der Mischung.
(Klangbeispiel)
Es ist ein Klang, der sich eigentlich nicht orten lässt, aber er ist durch völlig normale Mittel erzeugt. Ich meine, ein einfaches Flageolett wie das a, da stimmt man ja geradezu mit. (Lacher im Publikum) Dann kommt der erste Tritonus in der ersten Geige, es sind gleich zwei hintereinander: A-Es und D-Gis. Aber auf das D-Gis kommt die zweite Geige zur selben Zeit mit arco battuto al ponte, dann die Viola mit battuto con legno. Die kommen zusammen, und die zweite Geige spielt mezzoforte. Meins hingegen, dieselben zwei Töne, sind pp. Wieder eine Mischung, die einen anderen Klangcharakter erzeugt, ohne dass dabei neue Töne ins Spiel kommen. Auf diese Weise entstehen sehr viele der Akkorde. Wir zeigen es Ihnen nach meinem lang gehaltenen Es, dann kommt das Es in dreifach verschiedener Weise: ponticello, flageolett und arco, während ich schon flageolett ponticello spiele. Jedes Mal verändert sich der Klang, immer derselbe Ton, immer in einer anderen Klangzusammensetzung, und drei Leute spielen es zusammen, so dass sich der Klang von Ton zu Ton ändert. Und dann kommt ein A, gleichfalls von drei Leuten produziert, auch jeweils von einer anderen Klangfarbe.
(Klangbeispiel)
Wir kommen jetzt zu dem Problem bei einer solchen Musik, die sich auf solche subtile Unterschiede aufbaut: Wenn man das einmal weiß, hört man ganz anders zu . Das heißt, das Zuhören muss sich erst einstellen auf die Unterschiede. Das ist immer das Problem des ersten Mals.

Anfang des Streichquartetts von Luigi Nono | Courtesy Ricordi

Wie differenziert und zielstrebig Luigi Nono den Einzelklang in ein komplexes Klangereignis zu erweitern vermochte, zeigt besonders deutlich noch ein anderer Ausschnitt aus dieser einzigartigen Kompositions- und Interpretationswerkstatt. Es geht hier um das berühmte Zitat von Okeghems Chanson Malheur me bat, das gegen Schluss des Werks wie ein Cantus firmus in der Bratsche auftaucht; es wurde von Nono so in den Streichersatz eingebettet, dass es kaum noch erkennbar ist. Es wird so ein zu einem Teil der „heimlichen Welt“, die sich, evoziert durch die in den Notentext hineingesetzten Hölderlin-Zitate, im Werk auftut. Nono steckt sich dieses Zitat nicht wie ein wohlfeiles Fundstück ans Revers. Es ist für ihn Teil einer lebendig gebliebenen Vergangenheit. Ein weiterer Ausschnitt aus dem Workshop zum Streichquartett:

Das Zitat von Ockeghems „Malheur me bat“

Levin: Wollen wir mal die Stelle von Ockeghem spielen?
Nono: Ja!
Levin: Das ist eine schöne Demonstration. Das Lied von Ockeghem geht in gleichmäßigen Zeitwerten. Die Viola spielt da. Zum ersten Mal im ganzen Stück gibt es hier eine zusammenhängende melodische Linie, die in einem Instrument vorkommt.
Bratschist: Das ist das besagte Solo. (Lachen)
Levin: Das hat für den Bratscher das Stück gerettet. (Lachen) Das Malheur hat uns geschlagen.
Bratischst: In gleichen Notenwerten?
Levin: Ja, etwas archaisierend.
(Viola spielt solistisch Malheur me bat).
Levin: Jetzt spielen wir es Ihnen in der Nono-Version vor. Sie werden es sofort wiedererkennen.
(Das ganze Quartett spielt die Stelle.)

Eine wesentliche Rolle im Streichquartett von 1980 – und in fast allen noch folgenden Kompositionen im Spätwerk von Luigi Nono – spielen das Sich-Zeit-Lassen und die Stille:

Erstens: Musik muss atmen. Dann ist (zweitens) die Stille für mich ganz wichtig hier. Stille ist ein lebendiger Klangmoment. Die Stille hat manchmal verschiedene Notwendigkeit. Einmal, um mit den Ohren etwas anders zu hören, was vorher gespielt war, um eine Beziehung zu finden. Manchmal, um etwas, das man gehört hat, weiter in sich selbst zu entwickeln. Manchmal als eine Vorbereitung für etwas, das nachher und anders kommt. Manchmal ist Stille ist wirklich ein Moment von lebendiger Musik.

Stille ist für Nono also mehr als einfach eine Pause. Sie hat eine aktivierende Funktion im Hinblick auf das Hören.

Eine wesentliche Rolle im Streichquartett – und in fast allen noch folgenden Kompositionen im Spätwerk von Luigi Nono – spielen das Sich-Zeit-Lassen und die Stille:

Es geht also wirklich um die Stille für das Hören. Es ist kein rein akustisches Phänomen. Die Stille für das Hören durch den Intellekt, den Instinkt oder die Intuition, also in ganz verschiedener Weise.

In die Partitur seines Streichquartetts hatte Nono Hölderlin-Zitate hineingeschrieben, die nicht laut gelesen, sondern von den Interpreten nur mitgedacht werden sollten. Im Vorfeld der Komposition hatte er die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe kennengelernt, wo die Texte grafisch mit all den großen Leerstellen abgedruckt sind, wie sie Hölderlin selbst niederschrieb.

Das ist sehr deutlich zu sehen in der Frankfurter Ausgabe: Sein besonderes kompositorisches Denken. Einmal kommen sehr viele Ideen, dann kommt wieder nur ein Wort oder eine Silbe oder eine Präposition. Es ist ganz wichtig, alles zu hören: Zuhören! Ascoltare! Ascoltare rein physikalisch, ascoltare bewusst, mit Intuition, oder ganz rational und rein psychologisch, in einer psychophysikalischen Weise. Alle diese Ebenen.

Einige Textfragmente von Hölderlin, die Nono in die Partitur des Streichquartetts hineinschrieb:

Geheimere Welt – seliges Angesicht – wenn aus der Tiefe – wenn in reicher Stille – staunend – heraus in Luft und Licht – in stiller ewiger Klarheit – das weißt du aber nicht – Schatten stummes Reich – wenn in der Ferne – wenn ich trauernd versank – das zweifelnde Haupt.

Einige dieser Fragmente kommen mehrfach vor, so etwa „wenn in reicher Stille“ und „das weißt du aber nicht“, letzteres nicht weniger als fünfmal.

Was für das Spätwerk von Luigi Nono seit dem Streichquartett charakteristisch ist: Seine Arbeit am Klang ist nicht bloß formale Spielerei oder ein Katalog neuer Spieltechniken, sondern inhaltlich bestimmt. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Die wichtigsten Aspekte an diesen Verfahren lassen sich stichwortartig etwa so beschreiben:
Erweiterung des einfachen Klangs zur komplexen Gleichzeitigkeit von Einzelereignissen. Auflösung aller Ordnungssysteme und festen Strukturen. Suche statt Gewissheit. Aufsuchen der leisen Regionen, der Stille. Sich Zeit lassen, nach innen horchen. Verschwiegenheit statt Verkündigung von Wahrheiten.

Al gran sole carico d‘amore: Abschied von der Revolution

Die Verschwiegenheit anstelle einer Verkündigung von Wahrheiten markiert vielleicht am auffälligsten den Wandel in Nonos musikalischem Denken zwischen 1975 und 1980, zwischen der Oper Al gran sole carico d’amore und dem Streichquartett. Im Bühnenwerk von 1975 dominiert noch der große, pathosgeladene Ton des Revolutionsdramas. Die Tragik der vielen gescheiterten Revolutionen und ihrer Akteure im 19. und 20. Jahrhundert wird von Nono in grandios-düsteren Klangszenarien ausgemalt.

Al gran sole carico d’amore mit Texten von Marx über Lenin bis Brecht und Fidel Castro markiert den Schlusspunkt einer Schaffensphase, die 1961 mit dem ersten großen Bühnenwerk Intolleranza beginnt und eine ganze Reihe von politisch engagierten Werken, einige sogar mit unverstellt militantem Charakter, umfasst. Dazu gehören unter anderem La fabbrica illuminata für Sopranstimme und Tonband (1964), Musica-Manifesto und Non consumiamo Marx (1969), die Kantate Ein Gespenst geht um die Welt nach dem Kommunistischen Manifest (1971), und vor allem A floresta é jovem e cheja de vida für Solosopran, drei Stimmen, Klarinette, Kupferplatten und Tonband (1966). Hier werden konkrete Geräusche und revolutionäre Slogans auf Tonband mit bruitistischen Liveklängen und hochexpressiven Vokalpartien zu einem aufrührerischen Klangdrama verarbeitet. Das Stück ist der Vietnamesischen Befreiungsfront gewidmet. Bei der Uraufführung 1966 in Venedig wirkten Mitglieder des Living Theatre, der legendären politischen Theatertruppe aus New York, mit.

Aus der Distanz von bald einem halben Jahrhundert wirkt A floresta é jovem e cheja de vida jedoch wie ein verblasstes Dokument aus der Revolutionsgeschichte. Auch die neun Jahre später uraufgeführte Oper Al gran sole carico d’amore hat Patina angesetzt. Nach dem Ende des sogenannt Sozialistischen Lagers mit der Sowjetunion vorneweg, nach der Digitalisierung, nach Nine-Eleven und nach den diversen islamistischen Revolutionen, die keine linken Revolutionen, sondern Massenbewegungen reaktionärer Fanatiker sind – nach all diesen Ereignissen, die überhaupt nicht der Logik eines Revolutionsverständnisses gehorchen, wie es Marx und Lenin propagiert haben, hat der politische Gehalt von Nonos revolutionären Werken seine Überzeugungskraft verloren. Was von ihm bleibt, ist die utopische Hoffnung auf eine wie auch immer geartete Befreiung in ungewisser Zukunft.

Prometeo, das Zentrum im Spätwerk von Luigi Nono

Es ist nur folgerichtig, dass Luigi Nono nach dem Scheitern der sozialistischen Revolutionsidee und dem Scheitern der eigenen Hoffnungen, die er als aktives Mitglied der KP Italiens daran geknüpft hat, sein nächstes Opus magnum, Prometeo, als „Tragödie des Hörens“ im Inneren der Wahrnehmung verankert. Und dass er die Parolen vom Sieg des Proletariats nun ersetzt durch die Beschwörung der „schwachen messianischen Hoffnung“ – ein Gedanke von Walter Benjamin, der nun auch im Prometeo auftaucht. Differenzierung des Klangs nach innen statt erregter Massenchöre, jüdischer Messianismus statt Weltrevolution.

Es scheint, dass Nono nach Al gran sole eine Kehrtwende gemacht habe, vom engagierten Kämpfer mit Musik zum introvertierten Individualisten. Doch so einfach ist das nicht. Vieles spricht dafür, dass die beiden Schaffensphasen, die politische der sechziger und frühen siebziger Jahre und die nach innen gerichtete des letzten Lebensjahrzehnts vom Streichquartett an, dass diese beiden so gegensätzlichen Phasen sich wie zwei Erscheinungsformen einer gemeinsamen Idee darstellen.
Schon ein Blick auf die Texte von Al gran sole zeigt, dass da zwar viel von Kampf und Aufstand die Rede ist, dass damit aber letztlich eine Geschichte des revolutionären Scheiterns erzählt wird. Gegen Schluss kommen erst die Gefangenen zu Wort: Gramsci, Dimitrov und Castro, von denen nur der letzte, Castro, tatsächlich eine erfolgreiche Revolution anführte. Danach wird die revolutionäre Symbolfigur der Mutter ermordet, und ganz am Schluss intonieren der Chor und eine Frauenstimme zu den Worten „Weder Knecht noch Herr, auf zum Kampf“ eine Tonfolge aus der Internationale. Das alles klingt nun ganz und gar nicht optimistisch, sondern vielmehr skeptisch, und aus der allgemeinen Melancholie rettet sich Nono in die poetischen Sphären der höheren Sopranlagen. Die Musik verdämmert in diffuser Ferne. Diese Schlussmusik hat in ihrer Gestik eine verblüffende Ähnlichkeit mit den in mythologische Sphären entrückten Chören im neun Jahre später uraufgeführten Prometeo. Nur dass hier nun auch die Live-Elektronik als konstitutives Element dazukommt.

Revolution und messianische Perspektive, Vorder- und Rückseite derselben Medaille? So abwegig ist dieser Gedanke nicht, und auch nicht mehr so ganz neu. Das Gemeinsame wäre dann eine Hoffnung auf radikale Veränderung. Oder, anders ausgedrückt: Eine Sehnsucht nach einer anderen Welt, die mit dem Elend der real existierenden Welt nichts zu tun hätte. Eine sehr aktuelle Variante der poetischen Daseinskritik, wie sie die jüngere Moderne als Konstante durchzieht, von der Romantik über Baudelaires Desillusion bis zu Gustav Mahlers Idee vom „Getriebe dieser Welt“. Das eine Mal artikuliert sich Nonos Daseinskritik mit revolutionären Parolen und bezogen auf rein diesseitige Verhältnisse, das andere Mal, im Spätwerk von Luigi Nono, durch Bilder, die über die Realität hinausweisen; diese reichen beim Streichquartett bis in die Bereiche der Poesie und beim Prometeo zusätzlich in die antike Mythologie und die jüdische Theologie hinein.

Der Möglichkeitssinn von Robert Musil

Geistiger Hintergrund von Nonos Umorientierung weg von der Politik und hin zu neuen geistigen Bezirken ist die Kultur im Wien der Jahrhundertwende. Einen starken Einfluss auf ihn hatte dabei sein Freund und Librettist des Prometeo, Massimo Cacciari.

Massimo Cacciari ist wirklich einer von den neuen Denkern in Italien, der seit Jahren Bücher und Essays herausgibt über Wittgenstein, über Benjamin, über die Problematik bei Rathenau, über Schmitt, über Frege. Jetzt ist herausgekommen sein neues Buch Dallo Steinhof („Aus dem Steinhof“), eine große Sammlung von Essays über Wien[1]. Es sind schon geschriebene und neue Essays, sie eröffnen eine ganz neue Sicht auf diese Kultur … neue Formanten, neue Komponenten.

Von der Kultur des späten Habsburgerreichs erhielt Nono entscheidende Anstöße für das, was er als Wanderung durch das Innere bezeichnete und was 1980 im Streichquartett erstmals vollgültige musikalische Form angenommen hat:

Wanderer im Inneren: Das ist ganz wichtig. Oft glaubt man, man müsse als Roboter durch die exterieure Sache wandern. Aber ich glaube, man muss auch in sich selbst wandern. Das passiert zu wenig. Man hat Angst, in sich selbst zu wandern, sich zu prüfen. Das, ich finde, ist auch eine große Lehre, und die kommt von den großen Wienern. Nicht nur von den Komponisten – von den großen Wienern, den Giganten von Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in der Literatur, in der Malerei, in der Musik, in der Psychologie, in der Philosophie, im Leben.

Im Titel des Orchesterstücks, das Nono dem verstorbenen Freund Carlo Scarpa widmete, stehen die Worte: „ai suoi infiniti possibili“ – seinen unendlichen Möglichkeiten. Das erinnert an Robert Musil, den Nono als einen der „Wiener Giganten“ hoch schätzte, und seinen Roman Mann ohne Eigenschaften. Darin wird die Dimension des Möglichen, der „Möglichkeitssinn“, breit diskutiert:

„Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“[2]

Über die zerfallende Spätzeitkultur der Wiener Jahrhundertwende sagt der Erzähler im Mann ohne Eigenschaften, in ihr erkenne man

„…die bekannte Zusammenhanglosigkeit der Einfälle und ihre Ausbreitung ohne Mittelpunkt, die für die Gegenwart kennzeichnend ist und deren merkwürdige Arithmetik ausmacht, die vom hundertsten ins Tausendste kommt, ohne eine Einheit zu haben.“[3]

Das Archipel und der Wanderer

Das klingt nun beinahe wie die Vorwegnahme einer Diagnose der Postmoderne, wie sie etwa Jean-François Lyotard zu Papier gebracht hat. Nono bezieht sich offenkundig darauf, wenn er im Hinblick auf die Entstehung des Streichquartetts davon spricht, er habe die Idee eines Archipels ohne Zentrum gehabt, in dem es zu navigieren gelte. Seine Beschreibung des Kompositionsprozesses ist auch insofern interessant, als er von den Schwierigkeiten spricht, mit denen er konfrontiert war, nachdem er alle bisher gültigen Prinzipien zerschlagen hatte und nun mit einer neuen Denkweise, einer neuen Methode quasi wieder am kompositorischen Punkt Null anfangen musste.

Die Kompositionszeit war ziemlich lang und war nicht eine sukzessive Kompositionspraxis. Ich habe verschiedene Materialien zuerst vorbereitet, ich habe verschiedene Stellen komponiert, und sehr oft ich habe alles weggeworfen und noch einmal komponiert, mit der Erfahrung von dem, was mir nicht gut schien. Es gibt eigentlich keine Entwicklung. Es gibt vielmehr eine Technik – ich sage Technik, aber ich meine eine Denkweise, die basiert ist – ich könnte es so formulieren – auf dem Bild von verschiedenen Inseln in einem großen Archipel. Und diese Inseln sind kleine und große, und es gibt verschiedene Straßen, die durch diese Inseln führen.

Das Bild vom Navigieren zwischen den Inseln ist eng verwandt mit einem anderen Bild, das Nono immer wieder verwendet hat: dem des bereits erwähnten Wanderers. Auch hier wieder eine Suchbewegung, die ohne feste Vorgaben auskommt und das suchende Subjekt auf sich selbst gestellt sein lässt. Nono hat das in mehreren Werken der späten Jahre thematisiert: so etwa in Caminantes – Ayacucho für Vokalsolo, Chor, Orgel, Orchester und Elektronik, im Duo für im Raum wandernde Geiger Hay que caminar, soñando und in No hay caminos, hay que caminar… Andrej Tarkowskij für sieben Orchestergruppen. In diesem pausendurchsetzten Stück bildet der mikrotonal schwankende Ton G eine Art roten Faden. Daran sind die Klangeruptionen wie an einer Schnur aufgereiht.

No hay caminos, hay que caminar – „Es gibt keine Wege, man muss gehen“: Das ist Nonos Wanderer-Philosophie in Reinkultur. Nono hat die aus einem Gedicht von Antonio Machado stammenden Titelworte angeblich auf einer Klostermauer in Toledo gefunden. Ein magischer Ort: Die Stadt des legendären Rabbi von Toledo von Jorge Luís Borges und ein Zentrum der maurisch-jüdisch-christlichen Kultur des Mittelalters. Man denkt bei Nonos emblematischem Werktitel unwillkürlich an Jahrtausende alte Traditionen, an Talmud und Mystik.

Nonos Wende vom musikalischen Klassenkämpfer zum musikalischen Philosophen vollzog sich im Wesentlichen zwischen 1975 und 1980 in Form einer tiefen Krise. Er überwand sie durch Disziplin und Selbstkritik und nicht ohne Bewusstsein für das große Ganze der musikalischen Entwicklung.

Luigi Nono über seine Neuorientierung nach 1975

Nötig war nach Al gran sole carico d’amore – das wurde in Mailand und in Frankfurt in der Oper aufgeführt – das war ein Moment der großen Überlegung. Technisch, musikalische Sprache, menschlich, Text, ideologisch auch. Und kompositorisch. Musik zu komponieren ist nicht bloß eine technische Sache, nur vom Handwerk. Es ist eine Sache des Denkens, was auch von Schönberg gesagt wurde. Schönberg hat gelehrt zu denken, nicht zu komponieren. Das kommt auch in der Unterweisungen der Renaissancezeit vor, Zarlino, Zacconi, Artusi bis zu Padre Martini, wo man immer gesprochen hat vom verschiedenen Denken, musikalisch. Nicht nur technisch, nur Formel, Schemata, Paradigma. Sondern es ist das besondere Denken eines Menschen, der in einer besonderen Zeit lebt, der an seiner Zeit teilnimmt, der spürt: Was kommt heraus? Neu oder alt? Stehenbleiben oder weitergehen? Neue Hörbarkeit, neue Gefühle, neues Zusammensein, neue Konflikte, neue Widersprüche, manchmal auch neue Erde. Aber nicht in physikalisch-naturalistischem Sinn.

Was Nono hier 1980 ins Mikrofon sprach, konnte er in den folgenden Jahren, seinem letzten Lebensjahrzehnt, nur noch in Ansätzen verwirklichen. Er begab sich, ganz der Wanderer, auf eine Erkundungsreise durch unerforschtes Gelände, wo es Überreste alter Kulturen, verschüttete Weisheiten und neue Möglichkeiten musikalischer Poesie zu entdecken gab. Es war der großartige Versuch, aus den Trümmern des 20. Jahrhunderts noch einmal ein wie auch immer problematisches Weltbild zu rekonstruieren – ein aus Fragmenten zusammengesetztes Ganzes, in dem sich die großen europäischen Traditionen wie in einem zerbrochenen Spiegel vielleicht wiedererkennen könnten.

Anmerkungen:
[1] Verlag Adelphi, Erstauflage 1980 (vergriffen), Neuauflage 2005.
[2] Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, in: Gesammelte Werke Bd. 1, Kap. 4, Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1978, S. 16.
[3] Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 20.

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Der vorliegende Text basiert mit geringfügigen Änderungen auf dem Manuskript einer Sendung des Bayerischen Rundfunks München vom 27. Januar 2014 zum 90. Geburtstag von Luigi Nono am 29. Januar. Die beiden Ausschnitte aus dem Workshop vom 1. Juni 1980 mit dem LaSalle Quartett und das lange Statement Nonos zum Schluss wurden vom Autor aus dem Publikum heraus aufgezeichnet. Alle weiteren Auskünfte Nonos stammen aus einem persönlichen Interview des Autors, das ebenfalls am 1. Juni 1980 stattfand. Die vereinzelten Unklarheiten in Nonos Deutsch wurden für die schriftliche Fassung bereinigt.

Englische Version
siehe auch: Luigi Nono 100

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