Dieser Text entstand 2001, als Reinhold Brinkmann mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet wurde.
Theoretische Abgesänge, subtil instrumentiert
Musikwissenschaft ist ein unauffälliges Metier, dessen Wirkungsradius über die Nischen des Hochschulbetriebs nur selten hinaus reicht. Umso erstaunlicher ist es, dass der hochdotierte Siemens-Musikpreis, der sonst den Zelebritäten des internationalen Musikbetriebs vorbehalten bleibt, für das Jahr 2001 ausgerechnet einem Vertreter dieses akademischen Fachs überreicht wurde.
Preisträger Reinhold Brinkmann wollte selbst nicht so recht verstehen, warum die Wahl gerade auf ihn gefallen war, und ein flüchtiger Blick auf seinen Werdegang scheint das zu bestätigen. Geboren 1934 in der Nähe von Oldenburg, durchlief er zuerst eine durchaus normale Akademikerkarriere: 1961 Staatsexamen in Musikerziehung und Germanistik, 1967 Promotion in Freiburg, drei Jahre später die Habilitation in Berlin und in der Folge Professuren in Berlin, Marburg und wieder Berlin. Doch 1985 kam dann der große Sprung nach Harvard, wo er bis heute als Professor mit einem Schwerpunkt zur Musik des 20. Jahrhunderts tätig ist.
Der Glanz dieses Aufstiegs an eine amerikanische Elitehochschule verdeckt etwas die spezifischen Qualitäten Brinkmanns, die ihn vor vielen seiner Kollegen auszeichnen und die letztlich wohl auch das Siemens-Preiskomitee zu seiner glücklichen Wahl bewogen haben. Bereits Ende der sechziger Jahre, als sein Fach noch ein Hort abendländischer Gesinnung mit gelegentlichen braunen Resten war, hatte er die Zeichen der Zeit erkannt. Hellhörig geworden durch frühe Erfahrungen mit neuer Musik und die Schriften Adornos, versuchte er Musikwissenschaft aus dem kritischen Blickwinkel der Gegenwart zu betreiben.
Seine Dissertation verfasste er über die Klavierstücke op. 11 von Arnold Schönberg, ungeachtet der Warnung wohlmeinender Berater, mit dieser Arbeit über den damals noch höchst umstrittenen Komponisten – die Trias Jude, Emigrant und Zwölftöner war noch zu viel des Guten – könnte er sich seine Wissenschaftlerkarriere vermasseln. Es war dann nur ein konsequenter Schritt, dass Brinkmann 1969 bei der Darmstädter Frühjahrstagung für Neue Musik und Musikerziehung, die unter dem Thema „Musik und Politik“ stand, über den Schönberg-Schüler Hanns Eisler referierte und damit ein sorgsam gehegtes westdeutsches Tabu brach.
Im allgemeinen geistigen Klimawechsel der siebziger Jahre zahlten sich solche unbequemen Verstöße in akademisches Neuland aus. Er wurde zur Mitarbeit bei der Schönberg-Gesamtausgabe eingeladen und leitete ein Forschungsprojekt zum Thema „Komponistenexil“ bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Aus dieser Konstellation hat sich im Lauf der Jahre ein Themenkreis ergeben, der neben Exilforschung mehr und mehr auch die Erforschung der Musik im Dritten Reich umfasst. Ein Unternehmen mit Zukunft – man darf annehmen, dass in den Archiven von Universitäten, Opern- und Rundfunkhäusern noch einige Zeitbömbchen liegen.
Das verwickelte Verhältnis von Musik und Ideologie ist eine Problematik, die es Brinkmann wegen ihrer Aktualität besonders angetan hat. Er untersucht ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert und stößt dabei natürlich auf Wagner. Doch er geht weiter zurück bis zu Beethoven, dem ersten und bis heute wirkungsmächtigsten musikalischen Propagandisten der bürgerlichen Weltanschauung. Wie dessen epochaler Optimismus, ausgedrückt in den Kategorien musikalischer Form, bei Schumann zu lyrischer Innerlichkeit transformiert wird und sich bei Brahms gegen Ende des Jahrhundert schließlich der Melancholie zuneigt, ist eines seiner Lieblingsthemen, dem er seit Jahren mit Leidenschaft in all seinen Verästelungen nachgeht.
Den realen kulturgeschichtlichen Prozess sieht er folgerichtig zu Ende gedacht bei Thomas Manns fiktivem Komponisten Adrian Leverkühn und dessen Projekt einer Zurücknahme von Beethovens Neunter angesichts des aufziehenden Faschismus. Damit wird neuere Musikgeschichte eng verwoben mit Ideengeschichte und gerät zum subtil instrumentierten Abgesang auf die große Epoche bürgerlicher Musik.
Seine Forschungsergebnisse hat Brinkmann in zahlreichen Buchpublikationen veröffentlicht. Die Maßstab setzende Schönberg-Dissertation von 1969, die nun in zweiter Auflage erscheint, ist noch in fachlich anspruchsvollem, analytischem Tonfall gehalten. In seinen späteren Veröffentlichungen findet er hingegen zu einem literarisch ausgefeilten Stil, der musikalische Sachverhalte auch einem breiteren Publikum verständlich machen kann, ohne an Präzision einzubüßen; ohne die amerikanischen Erfahrungen wäre das wohl nicht möglich gewesen. Auch in dieser Kunst der Vermittlung zeigt sich das gewandelte Selbstverständnis einer Musikwissenschaft, die bereit ist, ihren Elfenbeinturm zu verlassen, sich an den heutigen Erfordernissen zu orientieren und ihr Wissen der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen.
Mit den Schwerpunkten und dem theoretischen Ansatz seiner Forschungen, überhaupt mit seinem vorurteilslosen, durch einen wachen politischen Instinkt geleiteten Wissenschaftsverständnis stellt Brinkmann auch heute noch eher den Ausnahme-, wenn nicht sogar Glücksfall eines deutschen Musikologen dar. Kein Wunder, dass er sich im liberalen Klima der amerikanischen Ostküste bestens aufgehoben fühlt, zumal er dort Arbeitsbedingungen vorfindet, von denen man an deutschen Universitäten nur träumen kann.
© 2001, Max Nyffeler
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