Ein Überblick über die Entwicklung der Musikkritik in Deutschland 1945-1975: Mitläufer, Großkritiker und Parteigänger der Moderne
Die Geschichte der Musikkritik in der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis 1970 – es geht hier vorwiegend um diese, da in der DDR eine freie öffentliche Meinungsäußerung weitgehend unmöglich war – lässt sich grob in drei Phasen einteilen. Sie entsprechen etwa denen in andern kulturellen Bereichen, und in ihren Konflikten wird etwas sichtbar von den allgemein gesellschaftlichen Entwicklungsproblemen im Deutschland der Nachkriegsjahre.
In einer ersten Phase bis etwa 1950 ging es um den Wiederaufbau funktionierender Strukturen und die Wiederherstellung der Grundlagen einer freien Zivilisation. Die fünfziger Jahre waren dann geprägt durch das Aufkommen einer traditionskritischen, kompromisslos dem Neuen zugewandten Avantgarde. Die mit ihr verbundene Kritik eroberte sich vor allem in den öffentlich-rechtlichen Medien einen festen, wenn auch peripheren Platz. Sie lebte in einer Art Koexistenz mit der traditionellen musikalischen Erscheinungsformen und Kriterien verpflichteten Kritik, auch wenn sich in Gestalt vereinzelter Kontroversen [1] ein latentes Konfliktpotential zwischen den beiden Lagern artikulierte. In einer dritten Phase ab Beginn der sechziger Jahre kam es Im Zuge der allgemeinen Politisierung der Gesellschaft zu einer zunehmenden Polarisierung. Die Spannung entlud sich um 1968 konflikthaft in einer radikalen Selbstbefragung der Kritik, was zu einer grundlegenden Neudefinition ihrer Voraussetzungen, Ziele und Methoden führte.
Die Anfänge nach 1945
Für die Musikkritik in Deutschland war das Jahr 1945 ein Neuanfang mit Hypotheken. Es gab nicht so viele Oppositionelle oder Rückkehrer aus der Emigration, um alle wichtigen Stellen im wieder aufzubauenden Musikleben neu zu besetzen. Den Gleichschaltungstendenzen der Nationalsozialisten hatte sich niemand entziehen können, wenn er nicht Berufsverbot und mehr riskieren wollte. So waren es vor allem die vielen kleinen, manchmal auch großen Mitläufer, die nach dem Krieg das musikkritische Personal stellten. Nicht alle besaßen die Lernfähigkeit wie ein Wolfgang Steinecke, der noch 1938 als Musikkritiker der berüchtigten Ausstellung „Entartete Musik“ bescheinigt hatte, sie habe „ihre Zielsetzung in wirkungsvoller und stark beeindruckender Weise erfüllt“ [2], und knapp acht Jahre später, unter der Aufsicht der amerikanischen Besatzungsmacht, mit der Gründung der Ferienkurse im Schloss Kranichstein, den späteren Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, eine für die Nachkriegsavantgarde entscheidende Initiative ergriff. Die personellen Kontinuitäten, die vielfach auch verdeckt ideologische waren, bestanden noch bis weit in die sechziger Jahre hinein und bildeten eine diskriminierende Unterströmung in der konservativen Musikkritik der Bundesrepublik.
Nach 1945 war die Musikpublizistik zunächst geprägt von einer Haltung, die man als „progressiven Opportunismus“ bezeichnen könnte. „Jede Äußerung von etwas scheinbar Neuem, das ohnehin nur ein Nachholen oder Nachbilden von älteren Modellen war, stieß auf allgemeine Anerkennung und ein meist unspezifisches, ressentimentbeladenes Lob“, stellte Ulrich Dibelius 1971 rückblickend fest. [3] Eine eigene Meinung zu haben musste nach zwölf Jahren erzwungener „Kunstbetrachtung“ erst wieder mühsam erlernt werden. Noch 1968 fand etwa Willi Schuh den Hinweis angebracht, dass der Musikkritiker „nicht nur ›Musikbetrachter‹ sein darf, wie ihn das ›Dritte Reich‹ forderte, sondern kritisch Stellung beziehen (…) muss“ [4].
Außerhalb des Spezialgebiets der neuen Musik ließ die dringend nötige Reflexion der überholten Grundlagen und Methoden des Metiers – eine Selbstkritik der Kritik – allzu lange auf sich warten. Zwei Gründe dürften dafür verantwortlich sein: Der Trivialmythos, Musik als etwas Überzeitliches sei dem realen Leben enthoben, und, damit verbunden, der verbreitete Unwille zur Vergangenheitsbewältigung – ein Umstand, für den Fred K. Prieberg 1981 die desillusionierenden Worte fand: „Musikgeschichte des ›Dritten Reiches‹ ist auch mehr als ein Menschenalter nach ihrem Ende sozusagen ein weißer Fleck geblieben.“ [5]
Vor diesem Hintergrund war es denn möglich, dass 1956, elf Jahre nach dem Ende der Nazidiktatur, der Musikkritiker des Bielefelder Westfalenblatts im Hinblick auf neue Musik unverdrossen von „Afterkunst, fremdem Außenseitertum, widerwärtigen Stücken, Ausgeburten des Elektronenstudios“ sprechen und verkünden konnte, dass in den leitenden Stellen der Funkhäuser „immer noch jene Leute ihre Tyrannei ausüben, die nach 1945 im jämmerlichen Tross der Besatzungsheere das niedergebrochene Deutschland als Liquidatoren des Zusammenbruchs überschwemmten“. Die Zitate stammen aus einem Gerichtsurteil. Gegen den Rundfunkautor Prieberg, der diese Äußerungen in einer Sendung mit dem Stil der SS-Zeitung Das Schwarze Korps verglichen hatte, ging der Bielefelder Kritiker mit einer Beleidigungsklage vor, scheiterte aber er vor Gericht. [6]
Eine späte Parallele fand dieser Vorfall 1970 in der Affäre um Werner Egk, den der Kritiker und Komponist Konrad Boehmer „eine der übelsten Figuren nationalsozialistischer Musikpolitik“ genannt hatte und der – diesmal mit Erfolg – auf Unterlassung klagte. [7] Solche Auseinandersetzungen mögen Extremfälle darstellen, sind aber symptomatisch für die Frontlinien und Konflikte in der westdeutschen Musikkritik der Nachkriegszeit.
Musikkritik in der DDR
Im östlichen Teil Deutschlands waren die Probleme der Musikkritik anderer Art. Ihre Situation lässt sich am besten anhand eines offiziellen Dokuments beschreiben: der Entschließung der Berliner Musikkritiker-Konferenz vom Dezember 1957. Darin hieß es: „Die Musikkritik der Tages- und Fachpresse sowie des Rundfunks hat die Aufgabe, beim Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik mitzuhelfen.“ [8]
Die Gleichschaltung hatte eine lange Vorgeschichte. Im Februar 1948 fasste das Zentralkomitee der KPdSU seine repressiven kulturpolitischen Beschlüsse und attackierte führende Komponisten und Musikkritiker; die Prager Konferenz der Komponisten und Musikkritiker im Mai 1948 diente sodann als Transmissionsriemen, um die neue Linie international durchzusetzen. Spätestens mit der ZK-Tagung im März 1951 wurde dann in der DDR der von Schdanow 1948 propagierte Kampf gegen den „Formalismus“ von der SED übernommen. [9] Es wurde institutionalisiert, was Theodor W. Adorno einmal auf den knappen Nenner brachte: „In der totalitären Presse ist der Kritiker sans façon mit dem Funktionär verschmolzen.“ [10] Die organisatorischen Garanten für die Kontrolle der Kritik durch die Partei waren der Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR und und die Zeitschrift Musik und Gesellschaft, beide geleitet von Parteifunktionären.
Eine freie musikkritische Tätigkeit war unter diesen Voraussetzungen nicht möglich. Musikkritik war weitgehend Parteiliteratur. Erst seit dem Parteitag der SED 1972, auf dem der Kultur eine „relative Autonomie“ zugestanden wurde, lockerten sich die rigiden Bedingungen, und es entstanden einzelne Nischen und Initiativen für unangepasstes Denken. Während Druckerzeugnisse aus dem westlichen Ausland einer strikten Kontrolle unterlagen, konnten Radiosendungen aus den benachbarten westlichen Staaten über aktuelle musikalische Entwicklungen nicht verhindert werden. Ab Beginn der siebziger Jahre waren es vor allem der Deutschlandfunk Köln und der Sender Freies Berlin, die die an neuer Musik Interessierten in der DDR mit Informationen versorgten.
Einen Ersatz für eine unabhängige Publizistik in der DDR konnten sie natürlich nicht bieten. Was diesen Namen verdient hätte, wurde paradoxerweise von einem Systemfeind geleistet: Eberhard Klemm, dem aus politischen Gründen eine Universitätskarriere lebenslang verwehrt blieb, schrieb als freiberuflicher Publizist unzählige Artikel abseits der offiziellen Parteimedien.
Das Wiedererscheinen von Melos und Neue Zeitschrift für Musik
Ein Markstein in der Geschichte der Musikkritik im westlichen Teil Deutschlands war 1946 die Neugründung der Zeitschrift Melos nach zwölf Jahren erzwungener Pause. Sie präsentierte sich von Anfang an als Organ einer aufklärerischen Kritik und spielte bis zu ihrer Zusammenlegung mit der Neuen Zeitschrift für Musik 1975 eine führende Rolle in der deutschsprachigen Musikpublizistik Er wolle wieder anknüpfen an die Zeit vor 1933, versprach der Herausgeber Heinrich Strobel im Geleitwort der ersten Nachkriegsnummer und definierte die publizistische Linie des Blattes:
„Einmal gilt es, die Weltmusik seit 1900 in Deutschland überhaupt erst bekannt zu machen (…) Wir müssen langsam nachlernen, was der übrigen Welt längst als feststehender Wert vertraut ist: Das Werk von Debussy und Ravel, das Werk von Bartók und Strawinsky, das Werk von Milhaud und Honegger. (…) Zum zweiten aber gilt es, das eigene innerdeutsche Schaffen auf dem Gebiet der Künste, in unserem Fall auf dem Gebiet der Musik, erst einmal wieder ins richtige Gewichtsverhältnis zu bringen.“ [11]
Grundsätzlich ging es Strobel darum, „Begriffe zu klären und Wertmaßstäbe von möglichster Geltung aufzustellen in der Verwirrung und Niedergeschlagenheit der Geister“. Von den deutschen Komponisten nennt Strobel an erster Stelle Paul Hindemith; später erwähnt er auch Carl Orff und Werner Egk, die er – spätere Erkenntnisse [12] haben das relativiert – in „klarem Widerspruch zum Exerzierreglement der Partei“ [13] stehen sah. Das erste Heft enthält an prominenter Stelle einen Vorabdruck aus der deutschen Erstausgabe von Igor Strawinskys Musikalischer Poetik und, unter dem Titel Braune Klänge, eine furiose Abrechnung von Hans Heinz Stuckenschmidt mit den mediokren Protagonisten des Musiklebens unter den Nazis. Stuckenschmidt hatte während der Hitler-Zeit Schreibverbot; mit Artikeln wie diesem begann er eine jahrzehntelange publizistische Tätigkeit, in deren Verlauf er zum stilbildenden Doyen der bundesdeutschen Musikkritik aufrücken sollte.
Strobel hielt die vorgegebene Linie des Melos konsequent durch. Heftschwerpunkte der ersten Jahrgänge waren Komponisten wie Strawinsky, Hindemith, Schönberg, Schostakowitsch oder Ravel gewidmet, dazu kamen Themen wie Klassizismus und Zwölftonmusik (1947), Unterhaltungsmusik und Jazz (1948, mit einem Originalbeitrag von Jean-Paul Sartre), eine ausführliche Kritik von Adornos gerade erschienener Philosophie der neuen Musik (1949) oder Musik und Rundfunk (1950).
In der 1949 erstmals wieder erschienenen Neuen Zeitschrift für Musik versammelten sich demgegenüber mehr die Autoren konservativer Prägung. Das einst von Robert Schumann gegründete, nach 1933 von den Nazis gleichgeschaltete Blatt war 1943 mit andern Zeitschriften zusammengelegt worden in der Publikation Musik im Kriege, einem „Organ des Amtes für Musik beim Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“.
Im Geleitwort der Startnummer vom Dezember 1949 umgeht der „Hauptschriftleiter“ Erich Valentin das Problem „Drittes Reich“ mit vager Metaphorik und einem sorgenvollen Rundblick über die problembeladenen „letzten fünfzig Jahre“ und konstatiert: „Die erschreckende Fülle der Ereignisse, die seit mehr als dreißig Jahren auf die Welt einstürmten, hat den Sinn für den Zeitraum, den Zeitbegriff gewandelt.“ Für die unterlassene Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit nennt er Gründe: „Die Schnellebigkeit, in die uns das Schicksal hineingezwungen hat, verwischte die Grenzen und nahm uns die Möglichkeit, Abstand von den Dingen zu gewinnen.“ Unter solchen Auspizien konnte die traditionsreiche Zeitschrift vorerst keine wesentlichen musikkritischen Impulse vermitteln.
Eine neue Musikpublizistik im Rundfunk
Eine neue Art von Musikpublizistik entfaltete sich, weitgehend außerhalb des Zeitungsfeuilletons, im Zusammenhang mit dem Aufbruch der neuen Musik nach 1950. Im Gegensatz zu dem in den Zeitungsfeuilletons dominierenden Typus der Interpretationskritik war sie Kompositionskritik im strikten Sinn. Sie entwickelte sich vor allem im Umfeld der Darmstädter Ferienkurse und des vom Rundfunkmann Herbert Eimert 1951 gegründeten Studios für Elektronische Musik des Nordwestdeutschen Rundfunks – des späteren Westdeutschen Rundfunks (WDR) – in Köln.
Die mit diesen Institutionen verbundenen Komponisten und Autoren traten mit theoretischen Aufsätzen, Analysen, Werkkommentaren und Werkstattberichten an die Öffentlichkeit. Im Fall des Kölner Studios handelte es sich teilweise um semiwissenschaftliche Untersuchungen aus den Gebieten der physikalischen Akustik und Wahrnehmungspsychologie – erste Versuche, die umwälzenden Erkenntnisse, die aus der kompositorischen Nutzung der Klangsynthese gewonnen wurden, theoretisch aufzubereiten und einem interessierten Publikum zu vermitteln.
Wichtigster Publikationsort war zunächst das ebenfalls von Herbert Eimert ins Leben gerufene Musikalische Nachtprogramm, eine zweiwöchentliche Sendereihe des WDR, die zwischen 1948 und 1967 über 380 mal ausgestrahlt wurde [14]. Komponisten wie Karlheinz Stockhausen, Henri Pousseur, Gottfried Michael Koenig und Karel Goeyvaerts und der Akustiker Werner Meyer-Eppler äußerten sich zu Fragen der seriellen und elektronischen Musik, Autoren wie Hans Heinz Stuckenschmidt, Theodor W. Adorno und Heinz-Klaus Metzger lieferten kritische Kommentare. Andere Sender machten es dem WDR zum Teil nach, so dass sich erstmals eine primär im Rundfunk verankerte Musikpublizistik herausbilden konnte.
Das erste gedruckte Periodikum, das sich ausschließlich mit Fragen der neuen Musik beschäftigte, entstand 1955 mit der von Eimert unter Mitarbeit von Stockhausen jährlich herausgegebenen Publikation Die Reihe [15]. Im Mittelpunkt der insgesamt acht Ausgaben bis 1962 standen Fragen der seriellen Musik. In Thematik und Auswahl der Autoren gab es Querverbindungen zum Musikalischen Nachtprogramm des WDR, von dem auch mehrere Beiträge nachgedruckt wurden.
1958 erfuhr dann die auf die neue Musik spezialisierte Publizistik eine massive Verstärkung durch die von nun an jährlich erscheinenden Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik. Sie dokumentierten jeweils die im Jahr zuvor bei den Darmstädter Ferienkursen gehaltenen Referate und waren ein authentischer Spiegel der aktuellen musikalischen Diskussionen.
Kritik im Elfenbeinturm
Die Sendereihe des WDR und die beiden genannten Jahrespublikationen gehören zu den ergiebigsten Primärquellen für die bewegte Entwicklung der neuen Musik in den fünfziger und sechziger Jahren. Von der tagesaktuellen Meinungsproduktion weit entfernt, boten sie Informationen und Debatten auf höchstem fachlichem Niveau. Doch sie litten unter einem gravierenden Problem: Es war eine Publizistik von Fachleuten für Fachleute und insofern symptomatisch für die Situation der neuen Musik, die gesellschaftlich vollkommen isoliert war und sich nur dank öffentlich subventionierter Institutionen am Leben halten konnte. „Musik der Avantgarde, deren Rezeption sich auf enge Zirkel beschränkt, ist von der Kritik, sogar der sachlich unzulänglichen, in einem kaum erträglichen Maße abhängig“, diagnostizierte Carl Dahlhaus 1970. [16]
Aufgrund der Personalunion von Komponist und Autor, auch aufgrund eines stillschweigenden Gruppenkonsens, waren der kritischen Reflexion zudem enge Grenzen gesetzt. Die Komponisten, die ihre eigenen Werke und Kompositionstechniken darlegten, betrieben diese Selbstexegesen mit unangreifbarem Sachverstand und großer sprachlicher Kompetenz. Ernstzunehmende, grundsätzliche Kritik wurde dementsprechend selten und dann nur von hoher intellektueller Warte herab formuliert. Dazu gehörten etwa der Rundfunkvortrag Das Altern der neuen Musik, in dem Adorno 1954 den drohenden Materialfetischismus der Serialisten kritisierte [17], oder die radikalen Polemiken, die Metzger seit dem Aufsatz von 1958, John Cage oder die freigelassene Musik, in seinem Kampf zur Durchsetzung von Cages Musik gegen Verfestigungstendenzen in der Avantgarde verfasste. [18]
Die journalistische Tageskritik in den Zeitungen hielt sich mit wenigen Ausnahmen von solchen Kontroversen und Fachdiskussionen fern. Sie war vorwiegend auf traditionelle Interpretationskritik ausgerichtet, und wo sie als Kompositionskritik auftrat, folgte sie, wie Dahlhaus 1970 darlegte, in der Regel dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden Muster der poetisierenden Kritik; die Fragestellungen der avancierten neuen Musik hatten in dieser Optik kaum Platz. Zur dringend nötigen Etablierung einer Kompositionskritik, die ihren Weg aus den Fachzirkeln in eine breitere Öffentlichkeit finden sollte, schwebte Dahlhaus eine Verbindung von analysierender und historisierender Kritik vor, die ihren Ort nicht auf der täglichen Feuilletonseite, sondern in wöchentlichen Beilagen haben sollte. Solche gut gemeinten Reformvorschläge scheiterten aber schon damals an den Realitäten des Zeitungsgeschäfts.
Adorno und die Adorniten
Der 1949 aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte Th. W. Adorno brachte mit seiner dialektischen Eloquenz eine neue, zielgerichtete Schärfe in die aktuellen Debatten um die neue Musik. Obwohl sein apologetisches Eintreten für die Musik der Wiener Schule als einzig legitimer Traditionslinie im 20. Jahrhundert schon bei der Veröffentlichung seiner Philosophie der neuen Musik auf Kritik stieß [19], beeinflusste er mit seinen Thesen eine ganze Generation von Komponisten, Musiktheoretikern und Kritikern.
Mit Adorno hielt ein auf das 19. Jahrhundert zurückgehendes geschichtsphilosophisches Denken Einzug in die Musikpublizistik. [20] Er prägte die Formel vom „historischen Materialstand“, und anknüpfend an Hegels und Marx‘ dialektische Methode forderte er, das kritische Urteil aus der immanenten Bewegung des Materials heraus zu entwickeln, die Musik „mit den in ihrer objektiven, konkreten Zusammensetzung wirkenden Begriffen von Wahr und Falsch zu konfrontieren“ [21]. Das Kriterium der „immanenten Stimmigkeit“ der technischen Verfahrensweisen sicherte er gegen eine Überbewertung des rein technisch verstandenen Fortschritts ab: „Das Problem des Kriteriums heute wäre danach zu präzisieren: Wie verhalten sich konkret die technischen Maßstäbe von Stimmigkeit und Konstruktion zum Kunstwerk als einem Geistigen?“ [22]
Berufsbild und Praxis der Musikkritikers analysierte Adorno primär unter ideologiekritischen Aspekten. Das auch anderswo viel beschworene „Elend der Musikkritik“ [23] lag für ihn im Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit und in der „Schrumpfung von Subjektivität“ begründet: „Kritiker sind schlecht nicht dann, wenn sie subjektive Reaktionen haben, sondern wenn sie keine haben.“ [24] In den „Stammbegriffen der musikalischen öffentlichen Meinung“ sah er „bloße ideologische Nachzügler überholter geschichtlicher Stufen“. [25] Entsprechend hoch waren seine Forderungen an die Kritik: Kompositorische Kenntnisse, Unabhängigkeit von der Vox populi und von institutionellen Pressionen, hohe Sprachkompetenz, Fähigkeit zu genuiner ästhetischer Erfahrung [26] und eine Bereitschaft zum harten, notfalls auch vernichtenden Urteil: „Kennerschaft und diskriminierende Fähigkeit sind jetzt wie stets unmittelbar eines.“ [27]
Mit seinen Anstößen sorgte Adorno für eine lang anhaltende Polarisierung in der Musikpublizistik. Auch wenn seine Parteilichkeit zugunsten einer engen Traditionslinie der Moderne zuweilen doktrinäre Züge trug und seine komplexe Begrifflichkeit bei manchen Adepten zum progressiven Fachjargon verkam, ist der klärende Einfluß, den er auf das musikkritische Denken hatte, hoch einzuschätzen.
Neue Perspektiven um 1968
„Die ‚große‘ Epoche der Musikkritik liegt weit hinter uns“, konstatierte der Schweizer Musikkritiker Willy Schuh 1967 bei einem Symposium in Graz [28], es gebe keinen Grund, sie zurück zu wünschen. In der Epoche von Radio, Schallplatte und Fernsehen sei die Figur des allmächtigen Kritikerpapstes historisch überholt. Ähnliches konnte man seit den fünfziger Jahren immer wieder lesen, doch brauchte die Erkenntnis lang, bis sie sich allgemein durchgesetzt hatte. Musikkritik war auch in den fünfziger und sechziger Jahren vor allem Veranstaltungskritik in Zeitungen und Zeitschriften.
Neue Genres wie Schallplattenkritik, musikalische Radio- und Fernsehkritik oder gar Filmmusikkritik gerieten nur langsam ins Blickfeld, entsprechend der verzögerten Rezeption der theoretische Grundlagenliteratur vor 1945. Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit wurde erst 1963 vollständig veröffentlicht [29], die gemeinsam von Eisler und Adorno in den USA verfasste Studie Komposition für den Film erschien in der deutschen Originalfassung 1969 [30], und das 1936 zuerst in London in englischer Sprache veröffentlichte Buch Rundfunk als Hörkunst von Rudolf Arnheim, ein Grundlagenwerk über Kunstproduktion und Wahrnehmung im Medium Rundfunk, war sogar erst 1979 auf deutsch erhältlich. [31] Zum Thema Lautsprechermusik hatten sich in den fünfziger Jahren schon die um das Kölner elektronische Studio versammelten Komponisten und Theoretiker ausgiebig geäußert, doch waren die Auswirkungen dieser Spezialistenliteratur auf die breitere Musikpublizistik gering.
Neben der in den 60er Jahren einsetzenden Benjamin-Rezeption und dem Einsickern der Gedanken Hanns Eislers in die „westlichen“ Kulturdebatten nach 1968 [32] bildeten die Schriften Adornos einen der Treibsätze für die fundamentale Infragestellung, mit der sich nicht nur die Musikkritik, sondern das gesamte bundesdeutsche Musikleben Ende der 60er Jahre konfrontiert sah. Die nun einsetzende Selbstkritik der Kritik veränderte das Selbstverständnis des Kritikerberufs von Grund auf, was sich auch in einer Reihe von Publikationen niederschlug [33].
Die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion und den ökonomischen Bedingungen der Kritik rückte ins Blickfeld, immanent musikalische Kriterien wichen einer gesellschaftsbezogenen Sichtweise, die Organisationskritik wurde gegenüber der Interpretations- und Werkkritik aufgewertet, und es entstand ein neuer Typus von engagiertem Kritiker, der, wie die Vertreter der kompositorischen Avantgarde der 50er-Jahre, auf die Distanz zum kritisierten Gegenstand verzichtete und zum Parteigänger einer dem Fortschritt verpflichteten Kunst wurde. Die Massenmedien als gesellschaftliche Vermittlungsinstanz wurden thematisiert, Pop- und Rockmusik, Jazz und politische Musik wurden auch in bürgerlichen Blättern als kritikwürdig befunden.
Die Fronten verschoben sich, und wer zuvor als fortschrittlich galt, sah sich nun unversehens in eine konservative Rolle gedrängt, wie Stuckenschmidt, der einen „katastrophalen Verfall des Kunsturteils“ konstatierte und ihn damit begründete, „daß die Kritiker sich der bequemen Prozedur verschrieben haben, Kunsterscheinungen (…) als sozial bedingt zu erklären“ [34].
Mit der Neuorientierung veränderte sich auch das berufsständische Denken der Musikkritiker. Es entstanden gruppenweise Zusammenschlüsse der unterschiedlichsten Art. Bereits 1963 wurde die Kritikervereinigung Preis der deutschen Schallplattenkritik gegründet [35], um angesichts des schnell wachsenden Plattenmarktes der kritischen Kommentierung ein öffentlichkeitswirksames Forum zu verschaffen.
Im schweizerischen Boswil trafen sich ab 1971 Kritiker, Musikwissenschaftler, Musiker und Organisatoren zu Symposien über Fragen des Musiklebens, die ab 1976 unter dem Titel „Musikkritik in dieser Zeit“ als Fachtagungen für Musikkritik fortgesetzt wurden und Fragen des Metiers und die Rolle der Musikkritik in einer rasch sich verändernden Medienlandschaft zum Thema hatten.[36] Das eingefleischte individualistische Bewußtsein, das in der Figur des selbstherrlichen „Großkritikers“ seine reinste Verkörperung erfahren hatte, wich einem neuen, mehr kollegial geprägten Selbstverständnis des Kritikerberufs.
© 2005 Max Nyffeler
Eine gekürzte und leicht veränderte Version dieses Texts ist erschienen in: Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1945-1975, hrsg. von Hanns-Werner Heister, Laaber 2005.
Anmerkungen
[1] Vgl. die dem Thema Musikkritik gewidmete Doppelnummer 7/8 1953 der Zeitschrift Melos (Mainz).
[2] Zitiert nach F. K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt / M. 1982, S. 279.
[3] U. Dibelius, Kritik als Reklame, in: U. Dibelius (Hg.), Verwaltete Musik. Analyse und Kritik eines Zustandes, München 1971, S. 129.
[4] W. Schuh, Die Schweiz, in: H. Kaufmann (Hg.), Symposion für Musikkritik, Graz 1968, S. 51.
[5] F. K. Prieberg, Musik im NS-Staat, S. 9.
[6] Der Vorgang ist dokumentiert unter dem Titel Scherbengericht Nr. 3 in: Melos 3 (März 1958), S. 105–106.
[7] Konrad Boehmer, Das Elend deutscher Musikkritik, in: Peter Hamm (Hg.), Kritik/von wem/für wen/wie, München 1970, S. 90. Die Kontroverse und die Rolle Egks unter den Nazis sind dokumentiert in: Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat.
[8] F. K. Prieberg, Musik im anderen Deutschland, Köln 1968, S. 94.
[9] Ebenda, S. 44.
[10] Th. W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt / M. 1962, zit. nach der erweiterten Ausgabe 1968, S. 163.
[11] Melos 1 (Nov. 1946), S. 4.
[12] Vgl. u.a. F. K. Prieberg, Musik im NS-Staat.
[13] Melos 1 (Nov. 1946), S. 4.
[14] Chronologie – Neue Musik im WDR Hörfunk, http://www.wdr.de/radio/neue_musik/doku_chrono.html
[15] Die Reihe. Informationen über serielle Musik, Universal Edition Wien.
[16] C. Dahlhaus, Probleme der Kompositionskritik, in: Rudolf Stephan (Hg.), Über Musik und Kritik, Mainz 1971, S. 17.
[17] Gedruckt erschienen in: Th. W. Adorno, Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, Göttingen 1956, S. 120–143.
[18] Vgl. H.-K. Metzger / R. Riehn (Hg.), Musik wozu. Literatur zu Noten, Frankfurt 1980.
[19] Vgl. die Rezension von W. Harth, Die Dialektik des musikalischen Fortschritts. Zu Theodor W. Adornos „Philosophie der neuen Musik“ in: Melos 12, Jg. 16, Mainz 1949, S. 333–337.
[20] Vgl. C. Dahlhaus, Musikkritik als Geschichtsphilosophie, in H. Danuser (Hg.), Gesammelte Schriften Bd. 5, Laaber 2003, S. 240–247.
[21] Th. W. Adorno, Kriterien, in: W. Steinecke (Hg.), Darmstädter Beiträge zur neuen Musik, Mainz 1958, S. 8.
[22] Ebenda, S. 14.
[23] Siehe etwa die Aufsätze …. (Böhmer, etc.)
[24] Th. W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt / M. 1962, zit. nach der erweiterten Ausgabe 1968, S. 160.
[25] Ebenda, S. 155.
[26] Th. W. Adorno, Reflexionen über Musikkritik, in: H. Kaufmann (Hg.), Symposium für Musikkritik, Studien zur Wertungsforschung Bd. 1, Graz 1968, S. 15–18.
[27] Th. W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, S. 164
[28] In: Symposium für Musikkritik. Studien zur Wertungforschung, Heft 1, hrsg. Von H. Kaufmann, Graz 1968, S. 50
[29] Suhrkamp, Frankfurt/M.
[30] Rogner & Bernhard, München 1969. Eine von Eisler veränderte Ausgabe des Buches war bereits 1949 im Henschel-Verlag Ostberlin erschienen.
[31] Rudolf Arnheim: Rundfunk als Hörkunst, München 1978
[32] Vgl. die Eisler-Schwerpunkte in: H. Brenner (Hg.), Alternative 69, Zeitschrift für Literatur und Diskussion, Berlin 1969, und in: W. Hamm und S. Paul (Hg.), Sozialistische Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft, Heft 5/6, Tübingen o. J., sowie R. Brinkmann, Kritische Musik – Bericht über den Versuch Hanns Eislers, in: R. Stephan (Hg.), Über Musik und Kritik, Mainz 1971, S. 19–41.
[33] Vgl. P. Hamm (Hg.), Kritik / von wem / für wen / wie, München 1968; U. Dibelius (Hg.), Verwaltete Musik, München 1971; H. Kaufmann (Hg.), Symposium für Musikkritik, Graz 1968 (Dokumentation eines Musikkritiker-Treffens 1967 in Graz).
[34] H. H. Stuckenschmidt, Was ist Musikkritik? in: P. Hamm (Hg.), Kritik / von wem / für wen / wie, S. 86.
[35] Zur Geschichte des heute privatrechtlichen Vereins siehe M. Elste (Hg.), Ausgezeichnet! 40 Jahre Preis der deutschen Schallplattenkritik, Berlin 2004, S. 10-12.
[36] Die erste Tagung ist dokumentiert in der Schweizerischen Musikzeitung 4, 1977, S. 193–206.