„Wir befinden uns in einer Zeit des radikalen Wandels, die Leute konsumieren die Musik heute anders“, sagt ein Kenner des Klassikbetriebs in einem Film, der demnächst auf Arte zu sehen ist. Und Roberto Villazón, fügt hinzu: „Die klassische Musik hat viel gelernt von Popmusik. Ich glaube, heute ist mehr ‚bumm’“. Villazón, der sich gerne als begnadeter Fernseh-Entertainer von Unterhaltungsshows bis hin zum fröhlichen Weihnachtsliedersingen mit Kindern betätigt, meint mit seiner verkürzten Ausdrucksweise wohl weniger die Musik als deren Präsentationsformen. Und damit hat er Recht. Diesen Eindruck konnte man jedenfalls bei den Screenings mit neuen Musikfilmen bekommen, die das Internationalen Musik- und Medienzentrum (IMZ) alljährlich in Berlin durchführt. Diesmal gab es rund fünfhundert Klassikproduktionen aus der ganzen Welt, und „bumm“ machte es öfters. In den audiovisuellen Medien erlebt die Klassik gerade einen massiven Popularitätsschub. Und der bildet offenkundig nur ab, was sich in der Realität abspielt.
Wird damit der Untergang unserer Musikkultur eingeläutet? Wer klassische Musik ausschließlich in Konzertsaal und Oper oder bildlos am Heimlautsprecher konsumiert, mag das so sehen. Ihre Einspeisung in die Kommunikationskanäle und Plattformen der globalen Medien, wo sie zum Bestandteil einer virtuellen Entertainment-Kultur wird, empfindet er als Verrat am klassischen Erbe. Und er wehrt sich instinktiv gegen das neue Publikum, das in die geschützten Bezirke „seiner“ E-Musik eindringt. Es ist ein Millionenpublikum, das anders und vermutlich auch oberflächlicher hört. Doch an seinen Erwartungen richten sich der Markt und damit die Vermittlungsmechanismen zunehmend aus.
Aufhalten lassen sich diese Veränderungen nicht, auch nicht mit dem Rekurs auf Adorno. Sie sind das Resultat des technisch-medialen Fortschritts, der tief in unser Leben eingreift. Das heißt nicht, dass der anspruchsvolle Kenner mit geschultem Ohr nun obdachlos würde. Es gibt noch immer genügend Räume, reale und virtuelle, wo autonomes Hören möglich ist. Und dann ist da ja auch noch das Selbermusizieren. Kritisch würde es, wenn im Konzertsaal und aus dem Lautsprecher nur noch ein Einheitsbrei zu hören wäre. Das ist aber bei der enormen Ausweitung der realen und digitalen Vertriebskanäle nicht zu befürchten.
Die Problematik wird auch im Bereich der zeitgenössischen Musik ausgiebig diskutiert. Merkwürdig an dieser Diskussion mutet aber zweierlei an: Die Komponisten denken dabei nur an sich selbst, aber nicht an das neue Publikum, das da an die Türen klopft; und meist betrachten sie die neuen Medien, wenn sie sich überhaupt dafür interessieren, nicht als Hilfsmittel, sondern als kompositorisches „Material“, mit dem nach bewährtem Rezept kritisch umgegangen werden müsse. Im Extremfall gilt die Digitalisierung als eine Art Leviathan, der es auf unsere Versklavung abgesehen hat und gegen den daher Widerstand zu leisten ist. Das ist eine in ihrer Naivität schon wieder komische Überschätzung der Macht eines Komponisten, der mit seiner Computermaus ja nur Töne und Geräusche produziert. Gegen die technischen Mittel zu arbeiten ist steril und nutzlos. Wenn Gutenberg seine Werkzeuge benutzt hätte, um statt der Luther-Bibel Pamphlete gegen den Buchdruck herzustellen, wäre die erste Medienrevolution der Neuzeit mit ihrer Popularisierung des Lesens ausgeblieben.
Die heutigen Produktionen der Musikfilmbranche haben nicht nur hohe technische Standards, sondern sind in vielen Fällen auch innovativ auf dem Gebiet der Medienästhetik und – was durchaus aufklärerisch zu verstehen ist – in der anschaulichen Wissensvermittlung. Dies immer unter dem Zwang zur Publikumsnähe, denn der Markt ist hart und der Kostendruck hoch. Experimente, die sich bloß an Insider richten, haben keinen Platz. Doch mancherorts in der neuen Musik gilt genau dies noch immer als Tugend, auch bei den neuen audiovisuellen Mischformen. Das Elend ist hausgemacht. Es gibt indes Ansätze zu einer anderen Praxis, wie man nun auch bei Eclat in Stuttgart wieder sehen konnte, wie es sich bei der Münchner Musica Viva zeigt, teilweise auch in Donaueschingen und andernorts.
Bei den neuen Publikumsstrategien spielt natürlich auch Geld eine Rolle. Eine für das Fernsehen gemachte, international vertriebene Produktion hat eine viel größere Reichweite als das einmal am Radio gesendete Werk eines einzelnen Komponisten. Aber es ist auch eine Frage der Einstellung: Geht es um die Kommunikation mit Kunst oder um ein Dagegensein mittels Kunst? Im Komponistengespräch beim Eclat-Festival sagte Philippe Manoury sinngemäß: Komponieren heißt, etwas zu konstruieren, es kann deshalb nur positiv sein. Darüber nachzudenken würde sich lohnen. Auch ein Blick auf die als kommerziell verpönten Produktionen könnte nützlich sein. Dann würde es vielleicht auch in der neuen Musik öfters einmal „bumm“ machen. Und das würde niemandem schaden.
Max Nyffeler
März 2015