Eine Filmdokumentation vom Prokofjew-Festival 2016 in Moskau und Sankt Petersburg zeichnet auf sieben DVDs ein umfassendes Bild des Komponisten. Ein editorisches Großprojekt. Und wenn es einen Dirigenten gibt, der große Stücke in großen Mengen in kürzester Zeit stemmen kann, dann ist es Valery Gergiev. Was er im April 2016 zum hundertfünfundzwanzigsten Geburtstag von Sergei Prokofjew leistete, ist aber selbst für ihn rekordverdächtig. An zwei Tagen brachte er alle Solokonzerte, alle sieben Sinfonien und fünf große Chorwerke des russischen Komponisten zur Aufführung: elfeinhalb Stunden Musik, und das verteilt auf zwei Städte. Allein am ersten Tag dirigierte er im Verlauf eines „Prokofjew-Marathons“ im Moskauer Tschaikowski-Saal sechs Werke, dann jettete er nach Sankt Peterburg, um hier am Abend weitere vier zu dirigieren.
Eine vorbildliche Edition mit dem „ganzen Prokofjew“
Die Ausbeute ist nun in einer Box mit sieben DVDs beziehungsweise vier Blu-rays erschienen, als Ergebnis einer russisch-französischen Kooperation des Mariinsky-Theaters mit dem Klassikkanal mezzo.tv und der Produktionsfirma Telmondis. Zur vorbildlich gestalteten Edition gehören außerdem eine neunzigminütige Docufiction über den Komponisten und ein umfangreiches Begleitbuch. Die reproduktionstechnische Seite mit Stereo- und Fünfkanalton, mindestens acht Kameras und der musikalisch intelligenten Bildregie von François-René Martin lässt keine Wünsche offen.
Die Edition ist das Risiko eingegangen, ein vollgepacktes Festivalprogramm live zu dokumentieren. Herausgekommen sind atmosphärisch dichte Mitschnitte mit Chor und Orchester des Mariinsky-Theaters unter Gergievs Leitung. Für eine packende Wiedergabe der Klavierkonzerte sorgen die Solisten Vadym Kholodenko, Denis Koshukhin, Denis Matsuev und die beiden jüngsten, Daniil Trifonov und Sergei Redkin. Als Geiger wirken Leonidas Kavakos und Kristóf Baráti mit, als Cellist Alexander Ramm.
Bemerkenswert ist dieses Medienpaket noch aus einem anderen Grund. Es entwirft ein Bild des „ganzen Prokofjew“, wie man ihm in dieser konzentrierten Form selten begegnet. Der Komponist, der ein halbes Jahr nach der Oktoberrevolution in den Westen emigrierte und 1936 in die Sowjetunion zurückkehrte, wird biographisch meist dreigeteilt in einen jungen, einen westlichen und einen sowjetischen Prokofjew. Nun erhält man alle drei Prokofjews auf einmal und gewinnt damit einen Überblick über die Entwicklung vom avantgardistischen Musikkonstrukteur der frühen Jahre über den weltläufigen Konzertvirtuosen und den Verfasser politischer Heldenkantaten bis zum Komponisten, der zum Lebensende, gesundheitlich geschwächt, mit der restaurativen Siebten Sinfonie um das Wohlwollen der Parteiaufpasser buhlen musste.
Eine perfekt gemachte Agitationsnummer
Über alle Schaffensphasen hinweg zeigt sich Prokofjews überschießende Vitalität, die sich in üppiger, bisweilen maßloser Klangentfaltung artikuliert, verbunden mit einer instinktiven Sicherheit, was Formbildung und Spannungsdramaturgie angeht. Eine Mentalität des Nur-Musikers, die Prokofjew als politisch indifferenten Künstler erscheinen lässt, snobistisch genug, um während der Revolutionszeit 1917 sich zum Komponieren in den Kaukasus zu verkrümeln und 1937, nach seiner Rückkehr aus der Emigration, dem stalinistischen Regime die „Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution“ zu kredenzen. Aufgeführt wurde sie allerdings erst 1966, mit „Korrekturen“. Sie,steht hier neben zwei anderen Monumentalwerken, die Stalins Kriegspolitik mit großem heroischem Pathos begleiten: die Kantate „Alexander Newski“, eine Umarbeitung der Musik zum gleichnamigen Film von Sergei Eisenstein, und das siebzigminütige Oratorium „Iwan der Schreckliche“.
Prokofjews Lobgesang auf den Kommunismus von 1937 war keineswegs ein ungeliebtes Pflichtstück zum Wiedereintritt in das neue sowjetische Russland. Man spürt in jedem Takt seine Identifikation mit der Thematik, die mit der Vertonung der berühmten elften Feuerbach-These von Marx beginnt und nach einer dramatischen Schilderung der roten Machtergreifung im feierlichen Gelöbnis kulminiert, Lenin stets die Treue zu halten und dem Weltkommunismus zum Sieg zu verhelfen.
Dass ein Komponist vom Format Prokofjews eine derartige Apotheose des kommunistischen Systems abliefert, ist befremdlich, zumal wenn draußen der stalinistische Terror wütet. Doch die Machart nötigt Bewunderung ab. Die Plastizität der Deklamation, die mühelos in blanke Agitation umschlagen kann, die scharf gezeichneten Ausdruckscharaktere, die raffinierten Spannungsverläufe: all das verrät eine musikalischen Intelligenz im Umgang mit Text, wie man sie vielleicht noch in Händels Oratorien findet. Seine kühle Gleichgültigkeit gegenüber dem politischen Verbrechen vor der Haustür erinnert dagegen an eine andere musikalische Berühmtheit: Richard Strauss. Der gleichwohl eher ein Mitläufer war und kein Überzeugungstäter wie Prokofjew.
Von links oben schreit der heisere Lenin in den Saal
Im Jahr 2016 könnte eine unreflektierte Wiedergabe dieser Sowjetkantate danebengehen. Das dachte sich vermutlich auch Gergiev und sorgte für einen Stolperstein. Bei Minute zwanzig und kurz vor Ausbruch der Revolution tritt links über dem Orchester ein Lenin aus dem Dunkel und schreit mit heiserer Stimme in den Saal, dass es jetzt um alles oder nichts gehe. Auch Lächerlichkeit schafft historische Distanz.

Fatale politische Metapher
Als Komplementärstück zu diesem Revolutionsgemälde enthält die Edition die frühe Kantate „Es sind ihrer Sieben“. Die politische Aussage ist hier als Mythos verkleidet. Der symbolistische Text von Konstantin Balmont beruht auf der babylonischen Beschwörung von sieben Dämonen, die Hass und Zwietracht unter den Menschen säen. Die Schilderung des Bösen mündet in einen Aufruf zum Exorzismus und wird damit zu einer fatalen Metapher für politischen Irrationalismus. Unwillkürlich stellen sich Assoziationen an die Hassplantagen der Social Media in unserer Gegenwart ein.
Im facettenreichen Bild Prokofjews, das diese Edition vermittelt, zeigt sich eine dezidiert russische Perspektive; das betrifft nicht nur die begleitende Dokumentation in Schrift und Bild, sondern die Musik selbst. Als große Klammer, die alle Werke zusammenhält, fungiert der Begriff „nationales Erbe“. Heute findet darin auch das stalinistische Erbe einen Platz. Wie dieses Geschichtsbild im einzelnen aussieht, bleibe dahingestellt. Interessant ist dagegen aus westlicher Sicht ein anderer Aspekt: Die künstlerisch überzeugende Darstellung, die Prokofjews Werk durch Gergiev erfährt, wird unversehens zum kulturpolitischen Vehikel, das dieses neue russische Traditionsverständnis exportfähig macht.
Prokofiev. Complete Symphonies & Concertos. Arthaus 109329 (7 DVDs), 109330 (4 Blu-ray)
Eine Printversion ist erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9.7.2018.