Nuria Schoenberg Nono zeichnet ein Porträt des Familienmenschen Arnold Schönberg, das sich vom bekannten Bild des Zwölftonrevolutionär Schönberg radikal unterscheidet. Ein Interview von Max Nyffeler.
English version
Nuria Schoenberg Nono, Sie sind 1932 geboren, knapp zwei Jahre später sind Ihre Eltern mit Ihnen auf der Flucht vor den Nazis nach Amerika emigriert. Kindheit und Jugend haben Sie in Los Angeles verbracht. Wie haben Sie damals ihren Vater erlebt, öffentlich und privat?
In der breiten Öffentlichkeit wurde er kaum wahrgenommen. Wir waren Emigranten, und seine Musik war den Amerikanern fremd. In Los Angeles konnte es passieren, dass jemand zu ihm sagte: „Ah, ich weiss, wer Sie sind. Sie sind der Vater von Ronny, der das Tennisturnier gewonnen hat.“ Er war zwar Professor an der Universität, aber kein Gott. In Europa war das anders. Als ich 1954 zur postumen Uraufführung seiner Oper Moses und Aron nach Hamburg kann, erlebte ich die merkwürdigsten Sachen. Die Leute kamen zu mir und sagten: „Oh, Sie sind die Tochter von Schönberg. Darf ich sie berühren?“
Und im Privatleben? Wann wurde es Ihnen erstmals bewusst, dass Ihr Vater ein berühmter Komponist ist?
Da war ich noch ein Kind. Unsere Mutter erzählte mir und meinen beiden jüngeren Brüdern schon sehr früh, dass er etwas Besonderes war. Als mich dann einmal die Mutter einer Schulkollegin fragte, was mein Vater beruflich mache, antwortete ich voller Überzeugung: „Er ist der grösste Komponist der Welt.“ Darauf meinte sie, wir müssten sehr reich sein. Aber wir hatten wenig Geld. Die Universität bezahlte ihn nicht sehr gut, und als er um Gehaltserhöhung bat, hiess es: „Wenn wir es Ihnen geben, müssen wir es allen geben.“ Dass er ein international angesehener Komponist war, war der Univerwaltung ziemlich egal.
Ihr Vater war lebenslang starken Anfeindungen ausgesetzt, und René Leibowitz, ein Vorkämpfer der Zwölftonmusik nach dem Zweiten Weltkrieg, meinte sogar, er sei der am heftigsten bekämpfte Komponist aller Zeiten gewesen. Erzählte er Ihnen von den Verletzungen, die er in Europa erfahren hatte?
Davon habe ich nicht viel mitbekommen. Meine Eltern wollten uns Kinder nicht mit der Vergangenheit belasten. In der Familie ging es um ganz andere Dinge. Zum Beispiel erzählte er uns beim Mittagessen selbsterfundene Geschichten. Eine ist auch als Buch erschienen: „Die Prinzessin.“ Und als ich ganz klein war, schrieb er für mich das Lied „Nullele Pullele“.
An Weihnachten spielte er Harmonium und wir sangen englische Weihnachtslieder, bevor wir die Geschenke öffnen durften. Er war ein fantastischer Vater und widmete uns Kindern viel Zeit.
Stiegensitzen
Wie hat sich das im Alltag gezeigt?
Wir machten zum Beispiel regelmässig „Stiegensitzen“. Die Treppe zum oberen Stockwerk befand sich in der Mitte des Hauses, und man konnte um sie herumgehen. Am späten Nachmittag sassen wir jeweils da und sprachen mit dem Vater über alle möglichen Dinge, die uns im Alltag widerfuhren. Wir bildeten auch einen Gentlemen’s Club, dem mein Vater und mein vier Jahre jüngerer Bruder Ronny angehörte, und einen Ladies‘ Club, bestehend aus meiner Mutter, mir und meinem Bruder Lawrence, der noch ganz klein war und von ihr getragen wurde. Dann marschierten wir um die Treppe herum, und jede Gruppe sang ihr Lied. Das für den Gentlemen’s Club hat mein Vater komponiert (singt): „pimpiam, pimpiam pampam“, das für den Ladies‘ Club meine Mutter: „ta-tii, ta-tii, ta-taa, bumm“, und jedes Mal hat mein kleiner Bruder begeistert „bumm“ mitgerufen.
Ihr Vater liebte offenbar Spiele.
Er interessierte sich auch sehr für das Tennisspiel meines Bruders Ronny und ist mit ihm zu den Turnieren gefahren. Dort führte er für ihn eine Art Buchhaltung und notierte jeden Punkt im Spiel, um den Spielverlauf hinterher mit ihm zu diskutieren. Er wollte verstehen: Warum hat er gewonnen, warum verloren? Was kann man besser machen? Er war er von der Notwendigkeit der Analyse überzeugt, genau wie im Musikunterricht. Das war typisch für seine Art zu denken und zu handeln. Diese Notizen gibt es übrigens alle im Schönberg Center in Wien zu sehen.
Er spielte auch selbst Tennis, unter anderem mit George Gershwin, mit dem er befreundet war. Wann hatte er damit begonnen?
Schon in Europa. Er lernte es von meiner Mutter Gertrud Kolisch, die eine versierte Tennisspielerin war.
In seiner Musik war er unglaublich streng. Ein Beispiel für sein kompromissloses Denken ist das zweite Chorstück op. 27 von 1925, eine rigide Zwölftonkomposition, in der es heisst: „Du sollst das Kleine nicht verehren! Du musst an den Geist glauben! Unmittelbar, gefühllos und selbstlos. Du musst, Auserwählter, musst, willst du’s bleiben!“ Das klingt nun ganz mosaisch.
Bei den Dingen, von denen er überzeugt war, war er konsequent.
1947 komponierte er unter dem Eindruck der Nachrichten aus dem Warschauer Getto „Ein Überlebender aus Warschau“. Die Arbeit über so ein Thema muss für einen Künstler eine schwere Belastung sein. Wie hat er das verarbeitet? Da kann man doch sicher nicht einfach die Tür des Arbeitszimmers hinter sich schliessen und sich dann dem unbeschwerten Familienleben hingeben.
Doch, das konnte er. Komponieren und Familienleben waren für ihn zwei vollkommen getrennte Sphären.
Wie sah denn sein Arbeitsumfeld aus?
Er hat ein Arbeitszimmer gehabt, in das wir Kinder ohne seine Erlaubnis nicht hineindurften. Hier komponierte er, und da stand auch ein Klavier.
Dann gab es einen zweiten Raum, in dem er bastelte. Zum Beispiel konstruierte er eine Musikschreibmaschine oder eine Buchbindemaschine, mit der er seine Partituren band. Er war ein fantastischer Handwerker. Die meisten Sachen sind heute im Arnold Schoenberg Center Wien zu sehen.
Hat sich die Strenge seines kompositorischen Denkens auch im Familienleben gezeigt?
Überhaupt nicht. Er hat auch nur selten geschimpft. Seine Methode war anders. Einmal habe ich meinen Bruder schlecht behandelt, und da nahm mein Vater eine Kartonkiste, packte ihn hinein und sagte: „Gut, dann schicken wir ihn eben weg.“ Ich bekam Angst und rief: „Nein, Papa, bitte nicht!“ Er wusste natürlich, dass ich mein Verhalten sofort bereuen würde.
Eine Form von angewandter Dialektik: Die Sache zuspitzen, bis sie ins Gegenteil umkippt.
Das Schlimmste war, wenn wir etwas angestellt hatten. Das tat ihm weh, und wir wollten das nicht. Als ich einmal vergessen hatte, meinen kleinen Bruder in der Schule abzuholen, befahl er mir: „Geh in dein Zimmer und denk darüber nach, was du ihm angetan hast.“ Aber schon nach zehn Minuten stand er reumütig unter der Tür und sagte – ich werde das nie vergessen: „Du darfst mich jetzt um Entschuldigung bitten.“ Die Rolle des strengen Erziehers lag ihm nicht.
Wie war das Leben in der Emigranten-Community in Los Angeles? Hat man sich da bei Ihnen regelmässig getroffen?
Nicht regelmässig. Aber eine Zeitlang machten meine Grossmutter, meine Mutter und ich sonntags sehr gute Nachmittagsjausen, wie das in Österreich eben Brauch ist, und da hatten wir Besuch. Anfangs war das nur für den weiteren Familienkreis und einige Eingeladene gedacht, etwa die Kolischs und die Mitglieder des Kolisch Quartetts.
Nuria Schoenberg Nono, Ihre Mutter Gertrud war die Schwester des Primgeigers Rudolf Kolisch.
Genau. Diese Einladungen hatten sich herumgesprochen, und so kam es, dass irgendwelche Leute, die am Sonntag so gegen vier Uhr vom Strand kamen, sich im „Café Schoenberg“ trafen und unser ganzes Gebäck einfach aufassen. Da kam mein Vater auf die Idee, zu dieser Zeit mit uns einen Ausflug mit dem Auto zu machen, und so standen die ungebetenen Besucher vor dem verschlossenen Gartentor (lacht).
Unter den Emigranten befand sich auch die Crème des europäischen Klassikinterpreten wie Artur Rubinstein, Jascha Heifetz und Gregor Piatigorsky, die Mitglieder des berühmten Kammermusiktrios. Hatten Sie mit ihnen Kontakt?
Nur mit Piatigorsky. Er besuchte meinen Vater, als er schon ziemlich krank war und nicht mehr viel aus dem Haus ging. Sie unterhielten sich einen ganzen Nachmittag lang, und mein Vater war sehr glücklich darüber. In seinen letzten Jahren hatte er nicht viel Besuch, ausser Studenten, die er privat unterrichtete.
Ein anderer berühmter Emigrant war Igor Strawinsky. Sie wohnten nicht allzu weit entfernt von ihm, aber Ihr Vater und Strawinsky hatten keinen Kontakt.
Es gab aber keine Rivalität oder sogar Feindschaft zwischen ihnen, wie man das häufig lesen konnte. Sie haben einander einfach in Ruhe gelassen. Einmal, bei einem Konzert, haben sie sich begrüsst, mehr nicht. Als ein Journalist einmal abschätzig über Strawinsky schrieb, hat ihm mein Vater sogar einen Brief geschrieben, in dem er Strawinsky in Schutz nahm.
Ein Bindeglied zwischen beiden war Robert Craft. Ende der Vierzigerjahre, als er bei Strawinsky wohnte, kam er häufig bei Ihnen vorbei. Was haben Sie für Erinnerungen an ihn?
Das war ein merkwürdiger Mensch. Aber er hatte grossen Respekt vor meinem Vater. Er war sehr interessiert an der Zwölftontechnik und nahm Partituren mit, die er dann wohl Strawinsky zeigte.
Craft hat in Los Angeles auch Konzerte mit Werken Ihres Vaters organisiert und dirigiert. Er sagte, bei den Proben sei Strawinsky oft dabei gewesen, den Kopf in den Partituren.
Später hat er auch in Venedig Stücke meines Vaters dirigiert, und da ist Strawinsky ebenfalls zu den Proben gekommen.
Zu den Privatstudenten, die zu Ihnen ins Haus kamen, gehörte 1935-37 auch John Cage. Haben Sie ihn als Kind noch erlebt?
Ich glaube schon, aber ich erinnere mich nicht mehr daran. Später habe ich ihn jedoch noch öfters gesehen.
Cage berichtet, Schönberg habe in der Universität vor vollbesetztem Hörsaal gesagt: „Das Lernziel dieses Seminars besteht darin, Ihnen das Schreiben von Musik unmöglich zu machen.“ Das klingt ja nicht gerade ermutigend.
Er liebte die paradoxe Redeweise und meinte natürlich das Gegenteil. Das verstehen die Amerikaner nicht. Sie denken straight. Mein Vater war ein fantastischer Lehrer. Er hat sich um jeden Studenten und jede Studentin einzeln gekümmert. Beim Mittagessen im Familienkreis konnte er freudig berichtigen, dass er einem Mädel, das nichts kapierte, etwas beigebracht hatte. Die meisten hatten überhaupt keinen Background. Viele waren junge Frauen, die Kindergartenlehrerinnen werden wollten und glaubten, Musik sei etwas Einfaches.
Was hat er denn unterrichtet? Werkanalysen von Beethoven oder Brahms? Zwölftonmethode?
Nein, nein. Dafür fehlte den Studenten das Vorwissen. Er machte nur leichte Analysen, ohne allzu sehr in die Tiefe zu gehen, um ihnen den Zugang zu den Werken zu erleichtern. Das betraf Kompositionen ungefähr von Bach bis Brahms. Zwölftonmethode hat er nie gelehrt, das war seine eigene Welt.
Ihr Vater war 1898 zum Protestantismus konvertiert und kehrte um 1930 angesichts des grassierenden Antisemitismus in Europa zum Judentum zurück. Welche Rolle spielten Glaubensfragen in der Familie?
Keine grosse. Er ging auch nicht in die Synagoge. Einmal fuhren wir in Los Angeles an einer grossen Synagoge vorbei, und als ich fragte, was das für ein Gebäude sei, sagte er: „Da beten die Juden.“ Ein andermal, da war ich etwa zehn, hörte ich, wie ein Schulkamerad von seiner Mutter zurechtgewiesen wurde, weil er einen katholischen Buben gegrüsst hatte. Zu Hause fragte ich dann meinen Vater, was das sei, „katholisch“. Er erklärte es mir und sagte: „Es gibt viele Religionen, und alle sind gut, wenn die Menschen an Gott glauben und den anderen nichts Schlechtes antun.“ Religion könne einem helfen, ein besserer Mensch zu werden.
Hatte Ihr Vater ein religiöses Begräbnis?
Nur in Ansätzen. Meine Mutter, die katholisch war, wollte, dass die Trauerfeier in einem dieser Gebäude in Los Angeles stattfinden sollte, die allen Religionen offenstanden. Ein Rabbi sprach, dann ein Priester, der keine Ahnung hatte, wer mein Vater war. Es waren nur ungefähr vierzig Leute anwesend.
Mit dreiundzwanzig heirateten Sie Luigi Nono und übersiedelten nach Venedig. Wenn Sie heute auf die Jahre in Amerika zurückblicken, wie bleibt Ihnen diese Zeit in Erinnerung?
Wir führten ein harmonisches Familienleben, und meine Eltern haben uns Kinder vorbildlich erzogen. Ich erlebte eine glückliche Zeit in Los Angeles.
Das Gespräch fand am 13. August 2024 in der Wohnung von Nuria Schoenberg Nono in Venedig statt. Bei dieser Gelegenheit ist auch das Farbfoto von ihr entstanden.
Dieses Interview ist in der Printversion auch in der Schweizer Musikzeitung, Dezember 2024, erschienen.
Eine kürzere Version des Textes wurde zum 150. Geburtstag von Arnold Schönberg in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13.9.2024 veröffentlicht.
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Siehe auch: Arnold Schoenberg: Religion as Protection and Place of resistance