Il prigioniero, Oper von Luigi Dallapiccola

Luigi Dallapiccola, Komponist von  "Il prigioniero"

Luigi Dallapiccola, Autor der Oper Il prigioniero, wurde in den späten 1940er-Jahren zu einem künstlerischen und moralischen Vorbild für die jüngere Komponistengeneration, die nach dem Ende von Krieg und Faschismus nach neuen geistigen Orientierungspunkten suchte: Luciano Berio, Sylvano Bussotti, Bruno Maderna, Luigi Nono, Camillo Togni, Roman Vlad und viele andere.

Selbstverständlich war das nicht, denn Dallapiccola, geboren 1904 in Pisino, dem heute kroatischen Pazin auf Istrien, war kein Kämpfer gegen den Faschismus gewesen. Die Größe Dallapiccolas, so Jürg Stenzl in seiner Arbeit über die italienische Musik zwischen 1922 und 1952, bestehe nicht darin, dass er von Anfang an auf der politisch richtigen Seite gestanden habe, sondern „gerade darin, dass er vom überzeugten Faschisten zum ebenso überzeugten Antifaschisten geworden ist“. Laut seinem Kollegen Goffredo Petrassi soll er anfänglich – wie viele andere – sogar ein glühender Anhänger Mussolinis gewesen sein.

Leben mit dem Faschismus

Dallapiccola interessierte sich im Grunde mehr für die Musik der Renaissance und des Frühbarock als für Politik; nach der anfänglichen Begeisterung fügte er sich in die herrschenden Zustände, war aber kein aktiver Unterstützer des Faschismus wie etwa sein renommierter Kollege Ildebrando Pizzetti. Und da der italienische Faschismus in kulturellen Dingen viel weniger repressiv war als der mörderische deutsche Nationalsozialismus, konnte er sich künstlerisch relativ frei entfalten. In den 30er-Jahren reiste er zu den IGNM-Festivals nach Prag, Paris und London und lernte Komponisten wie Alban Berg und Anton Webern kennen. Die Einflüsse verarbeitete er in seinen Werken, was ihm in der faschistischen Presse die unfreundliche Bezeichnung „Internationalist“, jedoch weiters keine Repressalien einbrachte.

Das sollte sich ändern, als Mussolini 1938 die Rassengesetze erließ. Nun gehörten Dallapiccola und seine jüdische Ehefrau plötzlich zu den Gefährdeten. In dieser Zeit liegen die Wurzeln der drei Werke, die in der Nachkriegszeit seinen Ruf als politisch-künstlerische Autorität begründeten: die Canti di prigionia (1938-1941) für Chor und kleines Ensemble über ein Gebet von Mary Stuart, eine Meditation von Savonarola und Auszüge aus Der Trost der Philosophie von Boethius, sodann die Oper Il prigioniero (1943-48) und, als Nachzügler, die Canti di liberazione für Chor und Orchester (1951-55). Die Parteinahme für Freiheit und Würde des Individuums in diesen Werken machte ihn zu einer Leitfigur in der humanistischen Idealen verpflichteten Nachkriegsmusik. Und bis heute gilt er als leuchtendes Beispiel eines engagierten Komponisten, der seine Überzeugungen nicht auf klingenden Pappschildern verkündet, sondern sie im Medium der Musik selbst Gestalt annehmen lässt. Eine Haltung, die auch auf den jungen Luigi Nono abfärbte.

Il prigioniero: Der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch

Die konzertante Uraufführung des Bühnenwerks Il prigioniero fand 1949 in Turin, die erste szenische Aufführung 1950 in Florenz statt, beide Male unter der Leitung von Hermann Scherchen. Doch die Entstehungsgeschichte reicht ein Jahrzehnt zurück. 1939, einige Monate vor Kriegsausbruch, hatte Dallapiccola die Erzählung La torture par l‘espérance (Folter durch Hoffnung) aus den 1883 veröffentlichten Contes cruels von Auguste Villiers de l’Isle-Adam, einem Vorläufer der Symbolisten, kennengelernt, was ihn zu einer genaueren Beschäftigung mit der spanischen Inquisition veranlasste. Eine zweite Quelle war La légende d’Ulenspiegel von Charles de Coster, die auch Wladimir Vogel als Vorlage für sein politisches, während der Nazizeit entstandenes Dramma-Oratorio Thyl Claes diente; Eulenspiegel ist in dieser Erzählung nicht einfach Spaßmacher, sondern auch aktiv im Befreiungskampf der Niederländer gegen die Spanier. Eingang in das Werk fand sodann die Charakterisierung des spanischen Königs Philipp II. als Inquisitionsherrscher in einer Erzählung von Victor Hugo; im Prolog erscheint er der Mutter des Gefangenen als unheimliche Spukgestalt.

In der Handlung, die einen Prolog und vier Bilder umfasst, steht der namenlose Gefangene permanent im Mittelpunkt. Zu Beginn besucht ihn seine von dunklen Ahnungen geplagte Mutter. Dann tritt der Kerkermeister auf und erzählt ihm, in Flandern sei ein Aufstand ausgebrochen und er werde bald frei sein; der euphorische Gefangene hört im Geist bereits den großen Roelandt, die Freiheitsglocke von Gent, erklingen. Durch die offengelassene Tür begibt er sich, getrieben von einer Mischung von Angst und Hoffnung, hinaus in den Hof. Doch nun tritt ihm der Kerkermeister in Gestalt des Großinquisitors entgegen: Das falsche Spiel mit der Hoffnung erweist sich als ultimative Grausamkeit und übertrifft alle physischen Folterqualen. Am Ende ist der Gefangene als Person nicht nur körperlich, sondern auch seelisch zerstört und fügt sich in seine Hinrichtung.

Physisches und seelisches Leiden

Das zutiefst pessimistische Werk, ein Reflex auf die Greuel des Kriegs, richtet somit den Blick nicht auf das große politische Geschehen, sondern auf einen Einzelnen, der zugleich für alle Opfer von Gewalt steht. Es spielt in einem diffusen Zwischenbereich von Innen- und Außenwelt. Reale Handlungsmomente und die Visionen des Gefangenen, physischer und seelischer Zustand verschwimmen zum Bild eines gepeinigten Individuums, das sich an ein letztes Fünkchen Hoffnung klammert und dem zuletzt auch dieses geraubt wird.

Noch stärker als die Darstellung des perfiden, routiniert funktionierenden Unterdrückungsapparats wirkt in Il prigioniero die Darstellung der seelischen Leiden der Hauptfigur. Auf sie richtet Dallapiccola den Fokus, und die Musik spielt dabei eine entscheidende Rolle. Das zeigt sich nicht nur in der differenzierten, alle Gefühlslagen von resignierter Innenschau bis zum expressiven Aufschrei auslotenden Gestaltung der Gesangspartie des Gefangenen, sondern auch in der formalen Anlage und der Motivik. Die fünf Teile des Werks sind symmetrisch um das zweite Bild, die große Dialogszene zwischen dem Gefangenen und dem Kerkermeister, angelegt, was auch durch die Struktur der Musik verdeutlicht wird.

Täuschung und Verrat, musikalisch gespiegelt

Dallapiccola – er hatte sich in den 30er-Jahren als einer der ersten italienischen Komponisten der Dodekaphonie zugewandt – legte Il prigioniero drei Zwölftonreihen zugrunde. Entgegen der gängigen Praxis definierte er sie aber nicht nur als Strukturelemente, sondern auch als Inhaltsträger: Es gibt eine Reihe der Bitten, eine Reihe der Hoffnung und eine Reihe der Freiheit. Sie charakterisieren musikalisch die entsprechenden Situationen und liefern das Material zur Akkordbildung, für Leitmotive und oft auch für die Melodiebildung. In solchen Verfahren, auch in Details wie der differenzierten Notation der Sprechstimme, zeigt sich der Einfluss von Alban Berg, dessen Opern Dallapiccola hinlänglich kannte.

Besonders auffällig in der Partitur von Il prigioniero und auch gut hörbar ist das dreitönige Freiheitsmotiv, bestehend aus einem absteigenden Halbton plus kleine Terz. In ihm kristallisiert sich das ganze Geschehen, denn im Verlauf des Stücks macht seine Bedeutung – bei gleichbleibender äußerer Gestalt – eine Wandlung durch. Zuerst steht dieses Leitmotiv für die Freiheitsvision und die Hoffnung des Gefangenen, doch im Schlussbild wird es in seiner Bedeutung pervertiert, wenn der triumphierende Großinquisitor es sich aneignet und damit den Gefangenen verhöhnt. Der Umschlag in der Handlung wird somit auch auf der Ebene des Materials in schockhafter Klarheit nachgezeichnet.

Wenn die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge verschwimmt

Die Mehrdeutigkeit ist dem ganzen Werk eingeschrieben. Sie zeigt sich im hilflosen Schwanken des Gefangenen zwischen Hoffnung und Verzweiflung, im betrügerischen Versprechen des Kerkermeisters, im Umkippen der Befreiungsvision in Desillusion, in der Herrschaft des Verrats. Das Fluktuieren von Trug und Wirklichkeit, das Verwischen der Grenze zwischen Wahrheit und Lüge: die Korruption des Wahrheitsbegriffs ist eine bedrückende Grunderfahrung der Menschen in allen totalitären Systemen und ein zielsicheres Mittel, um die Betroffenen zu demoralisieren und ihre geistige Widerstandskraft zu brechen.

Dallapiccolas Inquisitionsgefängnis im Saragossa des 16. Jahrhunderts könnte auch im Hier und Jetzt sein, an den raffinierten Methoden der Täuschung und der Unterdrückung der Menschen hat sich im Laufe der Geschichte nichts geändert. Dallapiccola hat diese Problematik auf packende Weise zur Darstellung gebracht. Il prigioniero ist damit ein Werk von zeitloser Aktualität.


Dieser Text ist eine geringfügig veränderte Kopie eines Programmheftbeitrags zum Konzert am 25. Juli 2024 bei den Salzburger Festspielen. Auf dem Programm standen Il canto sospeso von Luigi Nono und, in einer konzertanten Wiedergabe, Dallapiccolas Oper Il prigioniero.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.